"Die Pazifisten sind immer eine Minorität"
Dauerausstellung im Anti-Kriegs-Museum Berlin
Lianne Mol
Als ich in das Anti-Kriegs-Museum eintrete, läutet die Türklingel. Geräusche eines Dokumentarfilms, der von der Geschichte des Museums berichtet, sind im Ausstellungsraum zu hören. Tommy Spree, der Vorsteher des Anti-Kriegs-Museums, begrüßt mich herzlich und fragt mich, ob ich Deutsch oder Englisch spreche. Er erzählt mir über seinen Großvater, Ernst Friedrich, der 1925 das Museum gegründet hat. Ursprünglich war es jedoch nicht in diesem Gebäude in Wedding, sondern in einem kleinen Haus in der Parochialstraße gelegen. Aber da die Nationalsozialisten 1933 das Museum konfiszierten und in ein ‘Sturmlokal’ umwandelten, ging das erste Anti-Kriegs-Museum verloren. Herr Spree erzählt mir, wie er im Jahr 1982 die Idee, das Museum seines Großvaters neu zu eröffnen, zur Wirklichkeit machte. Er lädt mich ein, mich im heutigen Museum umzuschauen. Wenn ich Fragen habe, dürfe ich ihn einfach ansprechen – er sei im Raum nebenan, sagt er.
Große Tafeln mit Texten und Bildern fallen mir zuerst auf. Sie berichten über Friedrichs pazifistisches Projekt, über das alte Anti-Kriegs-Museum und wie es ironischerweise zur Folterkammer der Sturmabteilung wurde. Als ein SA-Trupp in März 1933 das Museum übernahm, war es nicht länger ein Treffpunkt für Anti-Kriegs-Aktivisten, sondern das Gegenteil. Friedrich wurde in Schutzhaft genommen und emigrierte Ende desselben Jahres nach Brüssel, wo er das zweite Anti-Kriegs-Museum eröffnete. Später, im Jahr 1950, gründete er in der Nahe von Paris die ‘Ile de la Paix’, die Insel des Friedens. Das heutige Anti-Kriegs-Museum in Berlin konnte er nicht mehr mitbekommen. Trotzdem sind die Fotos, die er auch in dem ersten Museum präsentierte, immer noch ausgestellt. Die letzte Tafel zeigt vier furchtbare Bilder von Opfern des ersten Weltkriegs – ihre Gesichter schwer von Waffen und Minen gezeichnet. Die provokative Visualität dieser Bilder ist mir neu, weil andere Museen, die den Krieg repräsentieren, meistens lediglich die Instrumente, aber nicht ihre Folgen zeigen.
An meiner linken Seite steht eine Vitrine mit Spielzeug – ein Soldaten-Spielset, verschiedene Videospiele, Brettspiele wie ‘Schiffe versenken’, usw. – mit der Frage “Sind das wirklich ‘Spielsachen’?”. Als ich diese Objekte ansehe, kommt Herr Spree auf mich zu und weist auf die Superman-Figur unten in dem Schaukasten hin. Die Figur wurde von einer achtjährigen Besucherin hingestellt und gehört ihrer Meinung nach dorthin, zwischen gewalttätige und kriegsverherrlichende Spielsachen, weil Superman immer seine Faust hochhält – deswegen ist er genauso gewaltsam wie die anderen Sachen in der Vitrine.
“Du sprichst sehr gut Deutsch,” sagt Herr Spree mir, “aber du bist keine Deutsche.” Ich erzähle ihm, dass ich Niederländerin bin. Gleich nimmt er mich mit in einen anderen Raum, um mir zu zeigen, dass Ernst Friedrichs Anti-Kriegs-Abzeichen des zerbrochenen Gewehrs ursprünglich aus den Niederlanden kommt. 1919 organisierte die niederländische antimilitaristische Zeitung ‘De Wapens Neder’ (Die Waffen nieder) einen Kongress, woran Friedrich teilnahm. Hier begegnete er dem Symbol und fing danach an, es auch für seine eigene Anti-Kriegs-Bewegung zu benutzen. Jetzt ist das zerbrochene Gewehr das weltweite Abzeichen des Friedens. Als ich Herrn Spree erzähle, dass ich im niederländischen Geschichtsunterricht nie von dieser Zeitung gehört habe, ist er nicht überrascht: “Die Pazifisten sind immer eine Minorität.”
Dass Anti-Kriegs-Bewegungen eine Minderheit sind, wird auch in der Berliner Museumslandschaft deutlich: in den öffentlichen Museen wie dem Deutschen Historischen Museum haben sie kaum Platz. Sie berichten über Krieg, aber opponieren die Kriegspolitik selten. Das Anti-Kriegs-Museum zeigt also eine alternative Geschichte, eine kleine Erzählung gegen die großen Narrative der Staatsmuseen. Dieses Museum, das eine private Institution unterstützt von Spenden ist, unterscheidet sich jedoch nicht nur durch seine explizit politische Agenda. Die ganze Museumserfahrung ist unvergleichbar. Man kann sich nicht vorstellen, in den großen öffentlichen Museen persönlich von dem Direktor empfangen zu werden. Dort gibt es nur streng aussehende Wächter, welche ohne viele Wörter die Tickets kontrollieren. Sie würden nicht wissen, dass ich aus den Niederlanden komme; geschweige, dass sie mir etwas zeigen, das speziell mit meinem Heimatland zu tun hat.
Nachdem ich die Ausstellung von Helmen, Waffen, Minen, Kriegspropaganda und entsetzlichen Bildern – begleitet von zynischen Texten über die Unnötigkeit des Krieges – im Erdgeschoss durchgegangen bin, lädt Herr Spree mich ein, den Original-Luftschutzkeller anzuschauen. Das Holz kracht unter meinen Füßen, als ich die Treppe hinuntergehe und ein Geruch von feuchter Erde kommt auf mich zu. Der Keller ist niedrig und kalt. Einige Stühle im Keller stammen noch aus dem zweiten Weltkrieg, da man, um im Keller Schutz zu finden, seinen eigenen Stuhl mitnehmen sollte. Sonst gibt es Gasmasken für Erwachsene und Kinder, ein Etagenbett, einen Apothekerschrank, einen handbetriebenen Luftschutz-Filter usw. Herr Spree startet eine CD mit Radio-Nachrichten und Geräuschen von Bombardierungen, die das Lächeln von Kindern und die Motoren von Autos draußen übertönen. So bekommt der/die BesucherIn eine Idee der Kriegserfahrung der Bürger im zweiten Weltkrieg – selbstverständlich soweit das möglich ist.
Würde es für große öffentliche Museen möglich sein, so eine persönliche und mimetische Erfahrung darzustellen? Könnten sie auch diese alternative Geschichte erzählen, oder ist das den kleinen privaten Museen wie dem Anti-Kriegs-Museum vorbehalten? Wie wünschenswert ist es, Friedensbewegungen als Minorität zu behandeln – sind sie nicht ebenso Teil der ‘großen’ Geschichte wie der Krieg selbst? Was das Anti-Kriegs-Museum verkörpert, ist eine Instanz von ‘Gegen-Wissen’: nicht nur durch die Ausstellung von Informationen und Bildern, welche andere Museen uns meistens nicht zeigen, sondern durch seine persönliche und herzliche Annäherung. Als ich das Museum fast zwei Stunden später wieder verlasse, schüttelt Herr Spree mir freundlich die Hand. Die Postkarte, die ich kaufen wollte, schenkt er mir. Ich drehe mich noch einmal nach Superman um und frage mich, ob im Deutschen Historischen Museum jemals eine achtjährige Besucherin ihr Spielzeug in die Vitrine stellen dürfte.
Dauerausstellung
Anti-Kriegs-Museum
Brüsseler Straße 21
13353 Berlin