Bevor die Nacht anbrach
Before Night Falls - Alltag, Strukturen und Bruchlinien im Arbeiter:innenmilieu bis 1933 im FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum
Charlotte Lück
Läuft man die belebte Adalbert Straße, das Kottbusser Tor im Rücken, ein Stück hinunter, erscheint auf der linken Seite hinter einem Zaun das FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum. Laut eigener Website ist es eine Zusammenführung aus dem ehemaligen Heimatmuseum Friedrichshain und dem Kreuzberger Museum für Stadtentwicklung und Sozialgeschichte und somit immer noch ein städtisches Museum, unterstützt durch den eigenen Förderverein und den Verein zur Erforschung und Darstellung der Geschichte Kreuzbergs.
Bereits seit dem 29.10.2021, und bis zum 27.02.2022, läuft dort die Ausstellung Before Night Falls: Alltag, Strukturen und Bruchlinien im Arbeiter:innenmilieu bis 1933. Nach dem üblichen Corona-check findet man im zweiten Stock des Hauses die kostenlose Ausstellung. Diese erstreckt sich über einen großen Raum mit weißen Wänden, an welchen Infotexte, Fotos, Plakate, Karten und vieles mehr hängen. Die Texte sind alle auf Deutsch und Englisch sowie kurz und verständlich geschrieben. Außerdem werden verschiedene, passende Objekte, zum Beispiel ein paar historische Boxhandschuhe oder eine Nähmaschine, im Raum ausgestellt. Aus einzelnen dünnen Holzleisten wurden Raumtrenner konzipiert, auf welchen ebenfalls Informationen auf verschiedensten Weisen gezeigt werden. Es gibt Text zu lesen, private und archivierte Photographien, Statistiken, Plakate, Karten und vieles Mehr. Ein längeres Gestell schlängelt sich durch die Mitte des Raumes, welches die Besucher*innen zu einem Rundgang einlädt. Die trotzdem offene Sicht in den Raum, welche durch die Leisten entsteht, sorgt für ein geräumiges Gefühl. Außerdem erlaubt es besonders den größeren Bilder, wie einer Photographie vom Hermannplatz am 1. Mai 1929 während eines Aufstands, ihre ausdruckstarke Wirkung zu entfalten.
Die Ausstellung selbst befasst sich, wie der Titel bereits verrät, mit dem Leben der Arbeiter*innen Friedrichshain-Kreuzbergs in der Weimarer Republik, vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933. Die Berichterstattung geht teilweise bis ins 19. Jahrhundert zurück. Sie ist anhand verschiedener relevanter Beispiele in einzelne Lebensbereiche wie Sportvereine, Schrebergärten und care Arbeit, als auch Streiks, Aufstände, Gefängnisse und mehr, eingeteilt.
Die Ausstellung dreht sich inhaltlich um die meist unterrepräsentierte Stimme und Perspektive aus dem proletarischen Milieu. Jene Menschen hatten stets mit unterschiedlichen Formen von Unterdrückung und staatlicher Repression zu kämpfen. In der Ausstellung wird zum Beispiel von beschämenden Desinfektionsmaßnahmen, Abtreibungsverboten und Ausgrenzung aus Sportvereinen berichtet. Außerdem liegt ein Schwerpunkt der Informationen auf dem politischen Kampf der Friedrichshainer* und Kreuzberger*innen. Wie viele KPD Parteilokale gab es eigentlich? Wie wurde über die 1. Mai Proteste berichtet? Welche Wahlplakate hingen und wie war die Stimmung in den Betrieben vor 1933? Die Ausstellung zeigt, wie sich Leben und Politik trafen und wie die NSDAP mit verschiedensten Mitteln die Arbeiter*innen Berlins für sich gewinnen wollte. Diese Mittel konnten von der Aneignung der Sprache, über Zerstörung von Parteilokalen bis hin zu Gewalttaten an Gegnerinnen, wie zum Beispiel an den wilden Cliquen reichen. Diese autonomen, antifaschistischen Jugendgruppen boten sich erste Straßenschlachten mit militanten Nationalsozialisten. Die Gewalt steigerte sich jedoch und später wurden politische Feinde der NSDAP bereits in die ersten Konzentrationslagern verschleppt.
Diese Inhalte werden nicht nur über Infotafeln und Drucke, sondern auch anhand von auditiven Zeitzeug*innen- Berichten und beispielhaften Objekten, wie einem Desinfektionsgerät aus der Zeit um Ende des 19. und Beginn des 20. Jahrhunderts, vermittelt. Die Objekte wirken manchmal jedoch fast etwas überflüssig, da die spannenden Aspekte der Ausstellungsthematik, für mich persönlich, in den anderen Materialien weit anschaulicher dargelegt werden. In einem Text oder Bild finden sich, gerade im Kontext politischer Erzählung(en), mehr Informationen als in einem beispielhaften Gegenstand aus der Zeit. Was können mir die Boxhandschuhe zeigen, was eine Infotafel zum Sportclub oder historisches Material wie ein altes Trainingsangebot nicht erzählen könnte?
Insgesamt bin ich beeindruckt von der Ausstellung und habe sie nun schon zweimal besucht. Durch die inspirierende Gestaltung birgt sie ein enormes Anziehungspotenzial für gegenwärtige Aktivist: innen. Die vielfältigen Eindrücke lösen in mir eine besondere Achtung für die Stadt Berlin und die ansässigen Arbeiter*innenbewegungen aus. Es regt zum Nachdenken an, dass Forderungen von 1922 - wie Gesetzesreformen zu Schwangerschaftsabbrüchen oder die geschlechtsgeschuldeten Nachteile bei der Anerkennung des Arbeitsaufwandes - noch heute präsent in Politik und Gesellschaft sind.
Als ich mit Mitbesucher*innen auf dem Heimweg durch die Straßen des Geschehens schlendere und die Erfahrungen und Ereignisse Revue passieren lasse, scheint die ferne Zeit obgleich doch sehr nah. Die Ausstellung bietet nicht nur einen Einblick in die Vergangenheit, sondern auch einen Spiegel der Gegenwart und einen Ausblick in die Zukunft, den man jedem empfehlen kann.
Before Night Falls - Alltag, Strukturen und Bruchlinien im Arbeiter:innenmilieu bis 1933
29. Oktober 2021–27. Februar 2022
FHXB Friedrichshain-Kreuzberg Museum
Adalbertstr. 95A
10999 Berlin
www.fhxb-museum.de