Am schönsten ist das Gleichgewicht, kurz bevor's zusammenbricht
Das Kapital. Schuld, Territorium, Utopie im Hamburger Bahnhof
Benedikt Merkle
Die Nägel zerren an Jesus Leib, spannen ihn aufs Kreuz, strecken seine Gliedmaßen unnachgiebig. Sein Körper, gemartert von der Schuld der Welt, gerade noch im Gleichgewichtszustand des Lebens verweilend, wird von den Metallstäben der kollektiven Sünde unaufhaltsam auf seine Auslöschung hin bearbeitet. Dieser grausame Augenblick besitzt eine perverse Köstlichkeit, die Aufschiebung des Unabwendbaren bis an den äußersten Rand. Wer hat nicht schon einmal vergnügt mit dem Gleichgewicht eines kippenden Stuhles gespielt, nur um Mal aufs Mal von diesem kurzen und doch immer wieder überraschenden Moment der äußersten Unentscheidbarkeit eingenommen zu werden. Fallen oder nicht – Tod oder Leben – verbleiben in der gewohnten Situation, die die Bewegung zum Ungleichgewicht reversiert oder überschreiten des „tipping points“, herbeiführen eines irreversiblen Moments, der alles ändern wird und eine neue Ordnung erschaffen kann. Im Aufschub dieses Moments liegt eine befremdliche Befriedigung.
Zu Beginn der Ausstellung „Das Kapital“, die vom 2. Juli bis 6. November im Hamburger Bahnhof gezeigt wird, drängt sich die Religion des Christentums unter der neonfarbenen Überschrift „Schuld“ auf. Ein einsamer Jesus streckt sich am Kreuz. Kreuzigung, flämisch, um 1640, Öl auf Leinwand. Jesus stirbt und das Christentum beginnt. Eine Lehre der Dissemination von Liebe im Angesicht des quid pro quo, des klassischen Ausgleichs von Schuldner und Gläubiger. Eine Utopie, die die Welt der Waren und des Geldes, die Welt des Privatbesitzes und der Sklaverei aus dem Gleichgewicht bringen möchte. Mit Jesu Tod wird Kapital ins Jenseits verlegt, Taten des Diesseits, in demütiger Selbstlosigkeit, Leibesversagung und Nächstenliebe vollzogen, werden hier verbucht und in ein ewiges, seliges Leben umgemünzt. Eine Utopie des Letzten, wo der Aufschub seine Vollendung findet.
Am Anfang des sich nach vorne schlängelnden Weges der Ausstellung steht somit der zaghafte Verweis auf eine alte, uns nur allzu bekannte Utopie. Ganz am Ende des Weges werden BesucherInnen auf Joseph Beuys Rauminstallation „Das Kapital Raum 1970-1977“ treffen, das eine neue Utopie entwerfen will und in dieser Anordnung dem religiösen Ursprung konfrontativ entgegenblickt, auch wenn der direkte Weg von allerlei Objekten, Trennwänden und Schaukästen versperrt wird. Die Reise hierhin durchläuft drei Überschriften, deren Übergänge sich fließend gestalten. Schuld, Territorium und Utopie bilden in dieser Reihenfolge den Rahmen einer unüberschaubaren Fülle von Objekten. Der in seiner groben Struktur linear gerichtete Ausstellungsgang kann eine vage, übergreifende Chronologie, welcher die Gegenstände unterliegen, suggerieren. Eine Anordnung, die Ideen und Konzepten ausgehend vom religiösen Ursprung von Schuld und Sklaverei, über territoriale, Raum und Grenzen schaffende Eigenschaften der Geld- und Warenzirkulation hin zu Versuchen, ein Gegennarrativ zu bilden folgt.
Dass es ein Anliegen der KuratorInnen war, beim Gang durch die Ausstellung BesucherInnen eine analoge Bewegung der Gedanken nahe zu legen, dafür stehen vor allem die sporadisch als Exponate eingereihten Bücher. Ezra Pounds intensive Auseinandersetzung mit der widernatürlichen Geldbesessenheit lässt über den Zusammenhang von Schuld, Wucher und der dadurch angelegten Asymmetrie und Klassengesellschaft sinnieren. Samuel Beckett steht im Bereich der Gedanken über Territorium und der unaufhaltsamen Ausbreitung des Kapitalismus mit seinem Prosatext „Worstward Ho“ für die einzig mögliche, sinistere und zynische Haltung angesichts eines absurden Fortgangs des Scheiterns. „Wieder Scheitern. Besser Scheitern.“, so der bedrückende Imperativ. Das Buch liegt eingelassen in einem als Sitzgelegenheit zu nutzenden, grauen Kasten, von welchem aus ein Dokumentarfilm über die globale Versorgungskette und deren absurde Auswüchse in Form einer von Globalisierung und Neoliberalismus erschaffenen maritimen Welt der Frachtschiffe betrachtet werden kann. Sollte beim Betrachten sich Bestürzung über diese Geschwüre des Kapitalismus breitmachen und der Blick zur Seite gleiten, trifft er zwangsläufig auf Becketts Prosa und findet sich dadurch nur noch amplifiziert.
Für die Räumlichkeit, die der Utopie gewidmet ist liegt Kants Abhandlung „Zum ewigen Frieden. Ein philosophischer Entwurf“ bereit, den der deutsche Philosoph der Aufklärung in Zeiten unvorstellbarer Unruhen der französischen Revolution verfasste. Im Angesicht des Aufruhrs und Unfriedens hält der Denker an dem Ideal eines praktisch zu verwirklichenden Friedens zwischen den Staaten fest und enthält sich dabei jeglicher Transzendenz für sein Argument. Frieden ist ein Zustand gesellschaftlicher Ordnung, der ständigen, bewussten Energieaufwand benötigt, um vor dem Sturz ins Chaos bewahrt zu werden. Die Verwirklichung dieser Utopie liegt bei den BürgernInnen – Jede einzelne ist mit verantwortlich für dieses Projekt. Mit dem Kapitel der Utopie vermag die Ausstellung am meisten Bewegung zu schaffen.
Utopie ist eine individuelle Schöpfung, ein Gegennarrativ zum bestehenden System, der Versuch, Geschichte anders zu schreiben. An der richtigen Stelle positioniert vermögen aufmerksame BesucherInnen eine zarte Soundinstallation von On Kawara vernehmen. Erst ganz leise, bei Optimierung der eigenen Position, einer Suche nach der Quelle des Tons deutlicher lässt sich ein monotones Spiel zweier Sprecher vernehmen, die unentwegt Jahreszahlen entgegen dem Gang der Zeit zählen. „One Million Years“ will gesucht, ja gespürt werden. Wer sich auf die Sitzgelegenheit setzt, die der Ursprung des Tons ist, kann die Jahreszahlen vibrieren fühlen. Dieser Rückblick auf eine unendlich scheinende Reihe von Jahreszahlen sensibilisiert den Blick für eine Welt, die sich durch den anhaltenden Aufschub des Letzten, des Endgültigen, in einer unentwegten, kreativen Anpassungsleistung, in einem andauernden Zustand des Werdens befindet. „Something which is near in place and time, but not yet known to me“ wird in Sichtweite der Soundinstallation von einem rotierenden Diaprojektor in Intervallen an die Wand geworfen. Das Dasein ist ein Aufschub der letzen Dinge, eine Existenz im Warteraum, in einem „Vorraum“, wie Siegfried Kracauer ihn nennt.
Es verwundert nicht, dass die Rückseite des Utopie-Bereichs der Ausstellung eine Nische darstellt, die den Nicht-Orten des Kapitalismus gewidmet ist. Diese von Marc Augé geprägt Kategorie real existierender Orte verweist auf ein Gefühl von Überschusslosigkeit, von Entleerung durch eine sterilisierend wirkende Struktur globaler Marktwirtschaft und Warenzirkulation. In Opposition zu anthropologischen Orten findet der Mensch sich hier selbst nicht wieder, er findet stattdessen Routine, Gewohnheit, Langeweile und Einsamkeit. Solche Orte säumen den Rand des etablierten Systems, entstehen dort, wo die Strukturen ein Extrem von Stabilität erreicht haben. Auch die Utopie leitet sich ihrer Etymologie nach vom Nicht-Ort – „ou-topos“ ab. Sie ist eine Randerscheinung der Gesellschaft und zehrt von einem Rest, einem Überschuss der nicht integriert werden kann. Darüber hinaus verweist der Begriff auf den „eu-topos“, den „schönen Ort“. Schönheit als die Qualität des freien Spiels in Schillers Analyse birgt die Möglichkeit von Freiheit als Befreiung von den Zwängen durch Gesetze oder Bedürfnisse. Utopie als Schönheit verweist dann auf eine Harmonie, ein Gleichgewicht von Form und Materie, Verstand und Sinn, Ideologie und Körper…
Ihren Abschluss findet die Ausstellung zumindest der räumlichen Anordnung zufolge in Joseph Beuys Rauminstallation „Das Kapital Raum 1970-1977“. Bis unter die Decke, so hoch wie kein anderes Objekt zuvor, hängen an drei Wänden des nach vorne geöffneten und von einem Drahtseil vor dem Betreten geschützten Raumes schwarze Tafeln, allesamt voll mit Kreidebeschriftungen. Modelle werden hier ausgebreitet, Theorien veranschaulicht, Erkenntnisse dokumentiert. Im Raum selbst stehen verschiedene Gegenstände, scheinbar ohne ersichtliche Beziehung zueinander. Die Höhe der Installation hat etwas von einer Kathedrale. Wahllos positioniert steht an einen schwarz lackierten Flügel gelehnt eine Axt, dahinter ein Speer, mit einem Messer in die Wand gestochen. Eine blecherne Badewanne gefüllt mit unkenntlicher Substanz, gesäumt von einer Gieskanne. Zwei alte Videoprojektoren, ein Mikrophon, Verstärker und Boxen. Erzeugnisse menschlicher Innovation, die diesen Raum gestalten, produzieren. Es geht Beuys um Kreativität und um ein anderes Konzept von Kapital. Der Begleittext zitiert ihn hier: „Man wird verstehen, dass der Kreativitätsbegriff ein Freiheitsbegriff ist und gleichzeitig die Fähigkeit des Menschen meint. Dann wird man auch die Konsequenzen ziehen und feststellen, dass das, was der Kapitalismus meint, gar kein Kapital ist, denn sie sprechen dauernd von Kapital im ökonomischen Bereich. Aber der wichtigste ökonomische Faktor ist die menschliche Fähigkeit.“
Diese Fähigkeit lassen die KuratorInnen ihre BesucherInnen direkt erfahren. Die gesamte Ausstellung, das Sammelsurium an Objekten, Video- und Soundinstallationen und Gemälden eröffnen einen nicht enden wollenden Strom an Analogien, Parallelen, möglichen Interpretationen und Anregungen zum selbst kreativen Sinnieren. Hinzu kommt eine ebenso große Anzahl von Zitaten bekannter Autoren, die sich in unterschiedlicher Höhe über den Exponaten, teilweise auch unter ihnen befinden und eine weitere Deutungsebene suggerieren können. Ein letzter, endgültiger Sinn entsteht nicht – immer wenn ein Zusammenhang besonders einleuchtend erscheint, wirft das in unmittelbarer Nähe gezeigt den Sinn wieder zurück ins Undurchsichtige. Gehen, Sehen und Denken sollen hier aufs Innigste verschränkt werden und es ist Aufgabe der BesucherInnen, ihren Weg durch den Raum zu kreieren.
Der Aufschub des Letzten, der nicht endende Weg durch den Raum lässt die Utopie der Kreativität erfahren. Es ist nicht mehr der kollektive Mythos einer Utopie im Jenseits, fernab von den Zwängen dieser Welt, sondern die Möglichkeit, im Werden selbst ein Gleichgewicht der Zwanglosigkeit erreichen zu können und damit zur Freiheit zu finden. Diese erschließt sich in einer anhaltenden, kreativen Anpassung und Erschaffung von Raum, der ständigen Transformation, die die statische „Heimat“ des Kapitalismus aushebelt und aufschiebt. Hier ist Schönheit, denn am schönsten ist das Gleichgewicht, kurz bevors zusammenbricht.
Das Kapital. Schuld, Territorium, Utopie
02.07. — 06.11.2016
Hamburger Bahnhof
Invalidenstraße 50-51
10557 Berlin