Die „Gottbegnadeten“ in der BRD oder warum es keine „Stunde Null“ in der Kunst gab
Die Liste der „Gottbegnadeten“. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik im Deutschen Historischen Museum, Berlin
Laura Koepp
Im Ehrenhof des Bendlerblocks in Berlin-Mitte, seit 1968 Sitz der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, steht die Bronzefigur eines nackten Mannes mit gebundenen Händen. Sie erinnert an den 20. Juli 1944, an den vergeblichen Versuch, Adolf Hitler zu töten. Claus Schenk von Stauffenberg und weitere Beteiligte an dem Attentat wurden noch in derselben Nacht in diesem Hof von den Nazis hingerichtet. Genau hier wurde 1953 das von dem Bildhauer Richard Scheibe (1879–1964) gestaltete Ehrenmal aufgestellt. Was damals offenbar niemanden der Verantwortlichen störte: Richard Scheibe stand auf der Liste der „Gottbegnadeten“. Eine Liste, erstellt 1944 im vom Auftrag von Hitler und Goebbels, die 378 Künstler*innen aus den Bereichen Literatur, Musik, Bildende Kunst und Theater, darunter 114 Bildhauer und Maler – ausschließlich Männer – aufführte, die während des Zweiten Weltkriegs vom Front- und Heimeinsatz freigestellt blieben und weiterhin künstlerisch tätig sein konnten.
Richard Scheibe, ein bedeutender Künstler der Berliner Sezession, stand also weit oben in der Gunst der Nazis, hatte seit 1934 eine Professur an der Hochschule der Künste Berlin, wurde von Parteigrößen gesammelt, nahm in München an den „Großen Deutschen Kunstausstellungen“, den Propagandaschauen der Nationalsozialisten teil und produzierte Skulpturen für die Wehrmacht. Trotzdem konnte er nach dem Krieg nahtlos weiterarbeiten. Vielen Malern und Bildhauern, die auf der „Gottbegnadeten“-Liste standen, gelang es, in der Bundesrepublik an ihre Karrieren im Nationalsozialismus anzuknüpfen: Sie bekamen Aufträge, Förderungen und Preise und lehrten an Kunstakademien.
Der Kunsthistoriker Wolfgang Brauneis hat als einer der ersten Biografien, Werke und Wirkung solcher Künstler erforscht, die sich erst gewinnbringend in den Dienst der Nazis stellten und nach 1945, auch dank existierender Netzwerke, weiter wichtige Aufträge bekamen. Brauneis ist Kurator der derzeitigen Ausstellung Die Liste der „Gottbegnadeten“. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik im Deutschen Historischen Museum (zu sehen bis zum 5. Dezember 2021), die ausgehend von der Liste die Karrieren einzelner Bildhauer und Maler während und nach der NS-Zeit und die Rezeption ihrer Werke im öffentlichen Raum in der Bundesrepublik behandelt.
Insgesamt wartet die Ausstellung mit einer Fülle von Material auf. Sie erstreckt sich über zwei Etagen und setzt vier inhaltliche Schwerpunkte, die wiederum in kleinere Sektionen mit Teilaspekten zum Thema gegliedert sind.
Der erste Ausstellungsbereich Die „Gottbegnadeten“ im NS-Kunstbetrieb zeigt die Rahmenbedingungen für die Kunstproduktion in der Zeit des Nationalsozialismus. Ein Auszug aus der Liste der „Gottbegnadeten“ wird als Ausgangspunkt der Forschung gleich am Eingang in einer Vitrine präsentiert. Die Gesamtliste liegt als Reproduktion aus und lädt zum Durchblättern ein. Eine Sektion zu künstlerischen Großprojekten in der NS-Zeit zeigt gleich zu Anfang recht eindrücklich, welch ein großes Spektakel der Kunstbetrieb war. In einem Video können Besucher*innen Aufnahmen des Eröffnungswochenendes einer der Großen Deutschen Kunstaustellungen Ende der 1930er Jahre anschauen: Ein riesiger Umzug mit tausenden von Zuschauer*innen am Straßenrand, die aus ganz Deutschland nach München kamen. Hier wird deutlich, dass die Künstler, die mit ihrer Kunst die nationalsozialistische Ideologie repräsentierten und unterstützten in der Öffentlichkeit präsent waren und sich propagandistisch vereinnahmen ließen. Es ist nur schwer vorstellbar, dass man sich nach 1945 nicht mehr daran erinnern konnte.
Das zweite und umfassendste Ausstellungskapitel Auftragskunst und Netzwerke nach 1945 beleuchtet exemplarisch am Beispiel von acht Bildhauern und vier Malern die künstlerische Produktion der einst „Gottbegnadeten“ in den frühen Nachkriegsjahrzehnten. Die Künstler sind fünf Regionen (Bayern, Ruhrgebiet, Rheinland, Berlin und Österreich) zugeordnet. Das klingt übersichtlich, ist es aber nur bedingt. Die Aufteilung des Ausstellungsraumes ist durch Trennwände und in den Raum gestellte Vitrinen strukturiert. Von beiden gibt es sehr viele. Möchte man wissen, in welchem Inhaltsschwerpunkt oder Teilsegment der Ausstellung man sich befindet, muss man sehr genau hinschauen, denn die Überschriften sind wenig prägnant senkrecht auf die Kanten der Trennwende geschrieben.
Ein weiteres Problem: Den Künstlern sind eigene Vitrine im Raum zugeschrieben, die mit Texttafeln und Bildern über die Karrieren und das Schaffen Einzelner informieren. Doch an den Wänden und in den Wänden (einige Wände haben Durchblicke für noch mehr Vitrinen) sind weitere Informationen zu finden – etwa über die Entstehung bestimmter Kunstwerke oder die jüngeren Auseinandersetzungen mit ihnen. Kurze oder lange Texte in kleiner Schrift, Zitate, historische Fotografien, Kunstwerke, Videos, historische Zeitungen und zeitgenössische Pressestimmen sollen einen Überblick verschaffen. Doch wer in diesem Meer an kleinteiligen Tafeln und Bildern nicht untergehen möchte, sollte sehr viel Zeit mitbringen. Oder den Ausstellungskatalog kaufen, der sehr ausführlich und übersichtlich mit vielen Abbildungen über das Thema informiert. Es sind vor allem die originalen Kunstwerke, Gemälde und Skulpturen, die das verhandelte Thema auf einer sinnlich erfahrbaren Ebene vermitteln.
Das Kernthema der Ausstellung beschäftigt sich mit der Frage, inwieweit Künstler der „Gottbegnadeten“-Liste nach 1945 auf bereits vorhandene Netzwerke zurückgreifen konnten. Offenbar vermittelte man sich gegenseitig Aufträge. Verbindungen zu Funktionsträgern in öffentlichen Institutionen der bundesrepublikanischen Nachkriegsgesellschaft wurden reibungslos hergestellt. Die Idee, solche Netzwerke darzustellen, ist sehr interessant, doch leider etwas eindimensional umgesetzt worden. Die Haltung der Künstler, die hier thematisiert wird, wird auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht: Sie alle leugneten nach dem Krieg aus politischer Überzeugung Aufträge der Nazis entgegengenommen zu haben und begründeten ihr Verhalten mit ihrem Überlebenswillen. Leider gibt die Ausstellung einer genaueren Analyse wenig Raum. Es werden zu viele Biografien zu oberflächlich behandelt. Man wünschte sich, dass den sehr unterschiedlichen Lebensläufen und individuellen Verflechtungen mit dem NS-Regime differenzierter nachgegangen würde, um zwischen unterschiedlichen persönlichen Handlungsmustern ideologischer, existenzieller oder opportunistischer Art unterscheiden zu können.
Einen genaueren Blick erlaubt sich die Ausstellung in dem Bereich Ausstellungen und Reaktionen nach 1945. Hier geht es um die Sichtbarkeit von vier Künstlern, die während des Nationalsozialismus Karriere machten und die ambivalente Rezeptionsgeschichte ihres Schaffens in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. In den 1970er Jahren wurde in der Bundesrepublik eine öffentliche Debatte um die Ausstellbarkeit jener Künstler immer stärker. Sie führte zu Diskussionen um moralische und ästhetische Kategorien zwischen Vertreter*innen aus Museen, Universitäten oder dem Kunstbetrieb und später auch zu Protesten auf der Straße. Erlebbar werden die Auseinandersetzungen für Besucher*innen der Ausstellung durch verschiedenes historisches Videomaterial. Fernsehinterviews mit den Künstlern geben beispielsweise einen Eindruck vom Selbstverständnis dieser ehemals „Gottbegnadeten“: Keiner von ihnen entschuldigte oder distanzierte sich. Sie alle gaben sich unpolitisch und behaupteten auch das von ihrer Kunst. Man hätte gemacht, was man immer gemacht hatte, um Geld zu verdienen und das „Pech“ gehabt, dass die Nationalsozialisten das gut fanden.
Die Kunstwerke der einst „gottbegnadeten“ Künstler prägen bis in die Gegenwart hinein Plätze, Gedenkstätten und andere öffentlich zugängliche Orte. Als Projektionen sind im letzten Raum der Ausstellung Fotografien von solchen Werken zu sehen. Richard Scheibes Bronzefigur im Ehrenhof des Bendlerblocks ist nur ein Beispiel von vielen. Es wird deutlich: Wir wissen oft nicht, von wem die Kunst stammt, die uns umgibt und mit welchen historischen und ideologischen Implikationen sie verbunden ist. Die Ausstellung will dafür sensibilisieren, genauer hinzuschauen. Sie wirft ein wichtiges Schlaglicht auf das Verhältnis von Kunst und Politik in der NS-Diktatur und auf deren Nachwirkungen und Kontinuitäten in der Bundesrepublik der Nachkriegszeit, wo das Verdrängen, Verschweigen und Verharmlosen zu den üblichen Verhaltensreflexen im öffentlichen Kunstbetrieb gehörten.
Die Liste der „Gottbegnadeten“. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik
27.08.2021 – 05.12.2021
Publikation: Brauneis, Wolfgang; Gross, Raphael (Hrsg.): Die Liste der „Gottbegnadeten“. Künstler des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik, München 2021.
Deutsches Historisches Museum
Unter den Linden 2
10117 Berlin