Geschichten des Meers
Emergent Strategies from the Deep im SAVVY Contemporary
Kilian Jarvis
Wie ist der Ozean als Körper der Erinnerung und als Gedankenträger zu verstehen? Für wen und welche Gruppen ist er (über)lebensnotwendig (geworden)? Dies sind die Hauptfragen, die sich das Kuratorinnen-Team der SAVVY Galerie im Berliner Wedding für die Ausstellung Emergent Strategies from the Deep gestellt haben.
Die Galerie SAVVY, geleitet von Bonaventure Soh Bejeng Ndikung, betreibt seit 2009 eine Ausstellungspraxis zwischen Vorstellungen vom Westen und Nicht-Westen, um diese verstehen und dekonstruieren zu können. Somit fungiert sie als Inkubator des kritischen Denkens über interkulturelle Machtverhältnisse und wie sich diese nachhaltig auf globale Gesellschaften auswirken.
Nichts anderes hat die Ausstellung, die vom 13. bis zum 28. November zu sehen war, vermitteln wollen. Beim Eintreten wird klar, dies ist keine gewöhnliche Ausstellung. Wer sonst strikte Bild- oder Objektkunst gewohnt ist wird überrascht, denn es herrscht eine zunächst verwirrende Geräuschkulisse. Die nach hinten spitz zulaufende Ausstellungsfläche ist passend zur maritimen Thematik in verschiedenen Blau- und Grautönen gestrichen, von den verschiedenen künstlerischen Arbeiten, hauptsächlich Videokunst, gehen verschiedenste Töne und Klänge aus. Man hört Meeresrauschen, Schiffshörner und verschiedene Stimmen unterschiedlichster Sprachen. Die Besuchenden fühlen sich wie an einem kleinen Hafen, mittendrin im Geschehen.
Mittendrin im Geschehen fühlt man sich auch bei einer durch Trennwände eingekapselten Videoarbeit von Louise Carver, Abbey Odunlami und Jamie Allen. Auf drei Bildschirmen werden abwechselnd jeweils Geschichten der Wasser- und Grenzüberwachung Europas in Afrikanischen Gewässern, der Edo Bevölkerung Nigerias, welche heute eine der größten migrantischen Populationen Italiens ist, und der Essenskultur des Mittelmeers erzählt. Die Zusammenhänge dieser drei Komponenten werden durch Sprecher von Betroffenen oder Experten erläutert. Schnell wird deutlich, inwiefern die kolonialen Machtstrukturen bis heute bestehen und der Westen weiterhin von den Ressourcen Afrikas profitiert. Ein Interview mit einem nigerianischen Fischer erläutert, wie europäische Fischergesellschaften großflächig afrikanische Gewässer für ihren eigenen Betrieb nutzen. Er beklagt sich, dass dadurch viele nigerianische Kleinfischer, deren Lebensunterhalt von dem Ertrag aus ihren Gewässern abhängt, ihr Heimatland in Richtung Europa verlassen müssen, um Arbeit zu finden. Im Kontrast dazu werden aus europäischer Perspektive die nach Europa kommenden Migranten als Gefährdung für die EU dargestellt. Ein kontroverser Widerspruch, den Europa sich nicht eingestehen möchte. Viele Migranten wären wohl gar keine geworden, wäre ihnen zu Hause nicht die Arbeit weggenommen worden.
Nach dem Betrachten dieses am Anfang der Ausstellung situierten Werks, findet man als Besucher*in allmählich Zugang zu diesem doch sehr Komplexen Thema. Auch ohne Begleitheft, welches das freundliche und auskunftsbereite Personal einem zu Beginn in die Hand gedrückt hat, wird schnell deutlich, in welche Sphären von Ungleichheit und Gewalt man sich begeben hat. Video Stills eines unter Wasser errichteten Stapels aus Bomben, begleitet von ominöser Musik, sprechen metaphorisch für die anhaltenden Auswirkungen der Kriege, nach dem Motto: der Ozean verbirgt, doch er vergisst nicht. Daran anknüpfend wird ein Video eines archäologischen Tauchgangs gezeigt, bei dem alte Schiffswracks untersucht und erforscht werden. Wieder ist die Videoarbeit durch Trennwände, die mit Akustikschaum verkleidet worden sind, vom Rest der Ausstellung abgekapselt. Durch die POV Kameraperspektive und den immersiven Soundtrack, geprägt von den Geräuschen der Taucherausrüstung und Bewegungen des Wassers, fühlen sich die Betrachtenden so als würden sie selbst es sein, die diesen Tauchgang bestreiten. Die Einbindung und Interaktion des Publikums in der Ausstellung verlaufen wie ein roter Faden zwischen den rigoros platzierten Werken.
Hat man vom Eingang aus, die Wände der dreieckigen Ausstellungsfläche abgelaufen, so erwartet einen in der fernsten Ecke des Hauses eine Stahltreppe in den Keller. Unten angekommen ändert sich die Atmosphäre vom Politischen zum Spirituellen. Denkt man. Auf einer Leinwand läuft ein Video, in dem Frauen und Männer in traditionellen westafrikanischen Gewändern durch eine aus weißen Steinen angelegte Spirale am Strand tanzen. Dazu läuft langsame Trommelmusik. Als Besucher*in steht man und staunt zuerst. Ganz zurückhaltend, als würde man das Ritual nicht stören wollen. Nach einem Blick in das ausführliche Begleitheft, wird deutlich, dass es auch hier eine politische Ebene gibt. Das Ritual dient den Praktizierenden dazu die Verbindung zu auf See verstorbenen Vorfahren aufrecht zu erhalten. Eine Allegorie zu den tausenden Flüchtenden, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft nie ihr Ziel erreicht haben.
Zu dem Werk gehört auch eine interessante virtual reality-Arbeit, bei der man durch eine VR-Brille an den Meeresboden tauchen kann. Leider waren die Controller defekt, sodass einem weitere Tätigkeiten unter Wasser vorenthalten blieben.
Läuft man, mit leichtem von der VR-Brille verursachtem Schwindel, die Treppe wieder hinauf, findet man am Ausgang eine kleine Sitz- und Lektüreecke, die mit bunten Kissen und Teppichen einladend gestaltet ist. Hier können sich Besucher*innen bei Interesse austauschen und die reichhaltige Ausstellung wirken lassen. Diese doch sehr brisante Ausstellung löst wohl eher tiefgründige und emotionale Diskussionen aus, bei denen die Kernfragen, die sie stellt, reflektiert werden können. Da bietet sich die Sitzecke als stimmungsaufhellendes Forum auf sehr angenehme Weise als Ort des Diskurses an. Schön, noch im Haus selbst die Möglichkeit dafür zu bekommen, bevor es wieder raus auf den harten Weddinger Asphalt geht.
Emergent Strategies from the Deep
13.11.21–28.11.21
SAVVY Contemporary – The Laboratory of Form-Ideas
Reinickendorfer Str. 17
13347 Berlin
https://savvy-contemporary.com/en/projects/2021/emergent-strategies-from-the-deep