Die peinliche Stille
Erwin Wurm. Bei Mutti in der Berlinischen Galerie
Ruri Kawanami
Schon der Titel klingt nach Ironie: Bei Mutti heißt die aktuelle Ausstellung in der Berlinischen Galerie und es ist durchaus klar, dass die Werke des österreichische Künstler Erwin Wurm, die in der monographischen Ausstellung gezeigt werden, keine harmlose Anspielung auf die Wärme und das Geborgensein zu Hause bei Mutti sein wollen. Wenn Ironie sich allgemein dadurch auszeichnet, dass etwas zwar zynisch verspottet wird, aber die Aussage eben doch nicht allzu ernst zu nehmen ist, dann ist die Ausstellung Bei Mutti doch etwas mehr als einfache Ironie. In Bei Mutti kreuzt sich die Thematik der häuslichen Umgebung und die Figur der Mutter immer wieder mit scharfsinniger Ironie, deren Lächerlichkeit wir aber vielleicht auch ernst nehmen sollen.
In der ersten umfassenden Soloausstellung in Berlin werden rund 80 Arbeiten von Erwin Wurm präsentiert: Von der seit 1995 entstandenen Serie One Minute Sculptures bis hin zu den neuesten Skulpturarbeiten, die erst vor wenigen Monaten entstanden sind. Trotz des längeren Schaffenszeitraums beziehen sich alle ausgestellten Arbeiten auf die Wohnkultur und die alltägliche Umwelt. Gewöhnliche, zuerst ausdrucklos scheinende Gegenstände wie Kühlschrank, Telefon, Bücher und sogar Spülmittelflaschen stehen immer im Zentrum seiner künstlerischen Auseinandersetzung.
Die häusliche Umgebung als künstlerisches Versuchsgelände
“Kühler Kopf, Kühle Hand. Kopf und Hand in Kühlschrank. Joint rauchen. Bier trinken”. Solche Handlungsanweisungen finden sich an einem kleinen weißen Kühlschrank mit runden Löchern an der Seite. Wie alle anderen Objekte, denen man in der Hauptausstellungshalle der Berlinischen Galerie begegnet – Tennisbälle, modifizierte Stühle, ein Pullover oder eine Hundehütte mit Löchern – befindet sich auch der Kühlschrank auf einem der niedrigen White Cube – Podeste, die in großzügigem, unregelmäßigem Abstand voneinander im Raum verteilt stehen. Die Körperhaltungen, die die Betrachter so zusammen mit den gegebenen Haushaltsgegenständen einnehmen sollen, sind oft bizarr und schwierig. So ergibt sich aus dem Versuch oft ein komischer, lächerlicher Kampf mit alltäglichen Objekten. Hält man nun aber die Pose wie angegeben ein, so wird man für eine Minute selbst zu einer Skulptur.
Bei Wurms One Minute Sculptures geht es also um eine kurze Performance. Die Skulpturen entstehen erst in dem Moment als solche, wenn die Betrachter durch ihre Teilnahme die Werke vervollständigen, indem sie selbst zum Teil des Kunstwerkes werden. Doch in der hellen, großräumigen Treppenhalle der Kreuzberger Galerie scheint der partizipatorische Ansatz etwas anders verlaufen zu sein, als wohl beabsichtigt wurde. Die Raumsituation, die sonst für Ausstellungen im klassischen Format gut geeignet sein dürfte, wirkt zuerst nicht unbedingt sehr einladend, in einer sterilen Umgebung spontan die etwas ungewöhnlichen und skurrilen Körperhaltungen zu performen. Oft liest man erst zweifelnd die Anweisungen, schaut sich um und wartet ab, bis die ersten Mutigen anfangen, sich in eine lächerlich schräge Pose zu begeben. Ganz frei von Berührungsangst ist die Atmosphäre kaum, nicht zuletzt aufgrund der mal strengen, mal teilnahmslosen Beobachtung durch das Museumspersonal. Peinliche Stille beherrscht die Ausstellungshalle, gelegentlich unterbrochen von einem Geräusch, denn da und dort scheitern die Umsetzungen der Performance. Bücher fallen herunter. Gelächter folgt.
Die Lächerlichkeit und Peinlichkeit des menschlichen Körpers in Verbindung mit der Ästhetik des Readymade machen schon länger die besonderen Eigenschaften der Arbeit von Wurm aus. Doch sind die One Minute Sculptures mehr als ein einfaches interaktives Spiel. Die bildhauerischen Arbeiten, die jedoch über kein beständiges Material verfügen, stellen eine ironische Antithese zur klassischen Bildhauerei dar, welche so oft auf die Regel der Beständigkeit als auch auf die Auswahl des expressiven Materials angewiesen sind. Die klassischen Kriterien von Komposition und Plastizität, die bei der Produktion und Analyse der bildhauerischen Arbeit immer noch eine prägende Rolle spielen, werden bei One Minutes Sculptures überflüssig. Wurms Herangehensweise ist spielerisch leicht. Die One Minutes Sculptures widmen sich dem Festhalten an der Lächerlichkeit. Seine Haltung gegenüber der Kunstgattung von Skulptur ist eine ironische Haltung, die aber auch irgendwo ernst gemeint ist.
Die Enge des Zuhauses, wie bei Mutti!
Unter der Vielzahl der ausgestellten Werke nimmt das Narrow House für die Ausstellung Bei Mutti einen besonderen Stellenwert ein. Bei Narrow House handelt es sich um einen begehbaren Nachbau des Elternhauses des Künstlers in der Steiermark in Österreich, das sowohl die Innenarchitektur als auch die äußere Erscheinung detailtreu wiedergibt, bis auf die Tatsache, dass das Ganze in einer bizarren Breite von 1,10 Metern nachgebaut ist. Um dieses klassische Familienhaus aus der 1970er Jahren betreten zu können, muss man nun den Bauch eng einziehen und vorsichtig seitwärts durch den Flur laufen, bis man in dem winzigen Badezimmer eine eben noch miniaturhafte Badewanne vor der Nase hat. So können die Besucher, laut dem Ausstellungstext “die bürgerliche Wohnkultur der 1970er Jahre, aber auch die Enge und Spießigkeit der Provinz” körperlich erleben.
Bei Mutti zu Hause in Narrow House sind weder die utopischen Werte des Familienlebens, noch die persönlichen Kindheitserinnerungen des Künstlers dargestellt. Vielmehr tritt das nachgebaute Haus als allegorisches Zerrbild des bürgerlichen Lebens auf, dessen surreale Erscheinungsform die vertraute Welt des Häuslichen fremd macht. Trotz der Abwesenheit eigentlicher Bewohner fühlt man vor den schwarzweißen Familienfotos an den Wänden überwiegend die Präsenz der Abwesenden. Voller Humor und mit ein bisschen Liebe setzt sich Wurm in Narrow House mit der Kleingeistigkeit des bürgerlichen Lebens kritisch auseinander.
So lustig das alles auf den ersten Blick erscheinen mag, geht es bei den Arbeiten von Erwin Wurm doch nicht bloß um eine Parodie des Alltags. Die Arbeiten, die in der Ausstellung Bei Mutti gezeigt werden, spiegeln eine ironische Haltung wieder, deren Botschaft aber ernst genommen werden soll. Seine sarkastischen Kommentare sowohl zur klassischen Bildhauerei als auch zur geistigen Enge des bürgerlichen Lebens tauchen oft in Verkleidung lustiger und bizarrer Erscheinungen auf, die in Wirklichkeit nicht neutral sondern durchaus politisch sind. Ironie ist bei Wurm eine Strategie der Entblößung.
Letztlich scheint die Ironie der Ausstellung daher auch gegen den Besucher selbst gerichtet zu sein: Die peinliche Stille, die die Ausstellungshalle mit One Minute Sculptures beherrscht, offenbart auf subtil Weise die Feigheit der bürgerlichen Museumsbesucher selbst.
Erwin Wurm. Bei Mutti
15.04–22.08.2016
Berlinische Galerie
Alte Jakobstraße 124128
10969 Berlin