Hamburger Bahnhof
Caroline Adler
Seit 10. Juni zeigt der Hamburger Bahnhof unter dem Titel Chronographia Arbeiten der türkischen Künstlerin Gülsün Karamustafa.
‚Chronographie’, so nennt man üblicherweise in der Geschichtswissenschaft alles chronologisch Niedergeschriebene – Geschichtsschreibung im weitesten Sinn. Dass Geschichtsschreibung jedoch nicht zwangsläufig streng chronologisch erfolgen muss, davon geht die Retrospektive Chronographia im Hamburger Bahnhof aus. Anders als üblicherweise von Monumental-Retrospektiven gewohnt, ordnen sich die Arbeiten der türkischen Künstlerin Gülsün Karamustafa nicht nach zeitlicher Abfolge und Entwicklungsstufen. Zu losen Kapiteln gegliedert, sollen vielmehr die ‚Verzweigungen und Querverbindungen’ der Themen und inhaltlichen Schwerpunkte ihres Schaffens ins Zentrum gerückt werden. Chronographia statt Chronographie: Die massive, 100 Einzelwerke umfassende Ausstellung betont das Moment der subjektiven Erzählung der eigenen Geschichte und die sozialen und politischen Kontexte, die sich in Karamustafas künstlerische ‚Werk-Biografie’ einschreiben.
Die Besucherin im Hamburger Bahnhof folgt diesem „Labyrinth der Zeit“[1] in fragmentierten, unzusammenhängenden Kapiteln. Die Sonderausstellung ist auf Erdgeschoss sowie oberen Ost- und Westflügel aufgeteilt, Anfang und Ende gibt es nicht. Überall wird man mit demselben einleitenden Text begrüßt – auch wenn man sich dafür im Erdgeschoss erst durch die Buchhandlung Walther König zwängen muss. An deren Ausgang thront Karamustafas Arbeit Modernity Unveiled (2011), eine Holzkonstruktion ähnlich einem Baugerüst. Darauf sind vereinzelt schwarz-weiße Fotos von Arbeitern montiert. Interweaving histories lautet der Untertitel der Arbeit, der wiederum programmatisch für das Konzept der Ausstellung gelesen werden kann: ‚Netz- und gewebeartig’ – interweaving – sollen sich die einzelnen Werke und Themen zusammenfügen, zueinander in Konstellation treten und dabei nicht nur werkimmanente Nachbarschaften sondern darüber hinaus Bezüge zum gesellschaftspolitischen Kontext ihres Entstehens und Nachlebens sichtbar machen.
Dafür eignet sich Modernity Unveiled ganz besonders gut, wenn auch erst nach Lektüre des gleichfalls ausgestellten Texts. Notdürftig auf A4 gedruckt, mit Pinnnadeln an die Wand geheftet, ergibt sich hier eher der Eindruck einer Arbeits-Dokumentation denn einer, laut Selbstbeschreibung, ‚Mixed-media-Installation’. Erst im weiteren Verlauf der Ausstellung wird sich zeigen, dass Karamustafas ‚Installationen’ häufig solche Provisorien sind, bestehend aus Fotomaterial, ausgedruckten Zettelchen, Notizen, kurz: ein buntes Durcheinander.
Die Holzkonstruktion von Modernity Unveiled – Interweaving Histories, so lernt man beim Lesen der beigefügten A4-Zettel, basiert auf dem Grundriss einer Grundschule, die von der österreichischen Architektin Margarete Schütte-Lihotzky 1938 in Ankara geplant wurde. Nicht nur offenbaren sich die immensen intellektuellen und geistigen Beziehungen zwischen der jungen Türkei unter Atatürk und dem deutschsprachigen Vorkriegs-Europa. Interessant ist auch die Sichtbarkeit der in diesen Beziehungen aktiven Frauen, deren Geschichten allzu oft hinter ihren Ehepartnern und Kollegen verschwinden. Interweaving histories, verschlungene Geschichte(n), das sind die Nachbarschaften und Verzweigungen einer deutsch-österreichisch-türkischen Beziehung, symbolisiert von einem hölzernen Gerüst.
Im selben Raum ist ebenfalls die Multimedia-Arbeit Porters Loading (2013) ausgestellt: An der Wand hängen aufgereiht die schwarz-weiß-Fotografien von Lastenträgern, beim Aufladen schweren Gepäcks oder stolz neben transportierten Möbeln, Leinensäcken usw. posierend. Bei näherer Betrachtung sieht man, dass es sich hier um Postkarten handelt, verschickt aus verschiedensten Ländern des Balkans und Nahen Ostens. Ein ebenfalls zur Arbeit gehöriger Video-Loop blendet die Frage ein ‚Is it an orientalist approach’? Ist die Postkarte des Lastenträgers die Zirkulation eines Klischees von Orientalismus und Exotismus? Sind es dokumentarische Aufnahmen oder im Studio entstandene Inszenierungen? Porters Loading beantwortet diese Fragen nicht, sondern stellt sie immer und immer wieder von neuem, in einer Endlosschleife. Entzieht man sich diesem Fragen-Loop, fällt der Blick in den Nachbarraum, auf drei großformatige Fotografien, deren Ästhetik auf seltsame Art mit den Lastenträger-Postkarten korrespondieren. Le Visage Turc (1998) ist ein Foto-Triptychon dreier überdimensionaler Kinder-Portraits. Naiv lächeln sie in eine unbekannte Ferne, Haltung und Gestus erinnert an Propaganda-Bilder des Nationalsozialismus oder der Sowjetunion. Die Ausstellung selbst gibt keine Auskunft über das ausgestellte Material. Dennoch, vor allem in Konstellation mit der Installation Porters Loading, ahnt man, was sich in nachträglicher Recherche bestätigt: – Le Visage Turc ist quasi das nationale Gegenstück zum international zirkulierenden Bild des Lastenträgers. Die Kinderportraits wurden im türkischen Magazin „La Turquie Kemaliste“ 1938 veröffentlicht und dienten der Propagierung ‚typisch’ türkischer Identität. Der Anspruch von Chronographia, in der Konstellation verschiedener Arbeiten aus unterschiedlichen Schaffensphasen die thematischen Verzweigungen und Verwebungen herauszustellen, ist hier, im Erdgeschoss des Hamburger Bahnhofs, gelungen. Allein in der Zusammenstellung dreier Arbeiten eröffnet sich ein ganzer Themenkomplex von Fragen nach türkischer Identität, Selbstbild und deren Repräsentation, aber auch der Verwandtschaft zu europäischen Narrativen, Nationalismen, Klischees und dem Blick auf das Andere, ‚Exotische’.
Als Besucherin des Hamburger Bahnhofs, gewohnt an Monumentalausstellungen westlicher, meist männlicher Künstler, wird dieser Blick auf das ‚Andere’ gleichfalls zu einer kritischen Selbstbefragung. So selbstverständlich sich die Ausstellung Chronographia in das Gebäude einfügt, so außergewöhnlich ist doch die Tatsache, hier das künstlerische Schaffen einer Frau vorzufinden, die weniger die westliche, sondern vor allem die türkische Kunstlandschaft immens geprägt hat. So gesteht auch Udo Kittelmann, Leiter der Berliner Museen, in seiner Eröffnungsrede ein, Karamustafas Schaffen und dessen Wichtigkeit für die zeitgenössische Kunst „viel zu spät wahrgenommen zu haben.“[2]
Gülsün Karamustafa, 1946 in Ankara geboren, studierte Malerei in Istanbul. Ihre Arbeiten, das macht die Schau im Hamburger Bahnhof deutlich, bedienen sich jedoch weitaus vielfältigerer Medien: Video, Performance, Fotografie, vor allem aber installative Arbeiten aus gefundenen Objekten und die Konzentration auf Textil und Handwerk. Karamustafas Arbeiten sind oft bunt, naiv, manchmal sogar kitschig. Gefundene Objekte, die zu verspielten Installationen bearbeitet werden, farbenfrohe Wand- und Bodenteppiche, Papiercollagen und Kunststoffmasken sind Teil der Retrospektive.
Hinter der Verspieltheit und Farbenfreude der gezeigten Arbeiten verbirgt sich jedoch oft ein doppelter Boden. Kitsch wird hier zum humorvollen Gegenentwurf einer drögen, bourgeoisen Kunstproduktion (Periodical Pink, 1999), gefundene Objekte erhalten den Status auratischer Meisterwerke (Venus in Jar, 1988 / The Hand, 2010) und Karamustafas scheinbar naive Ästhetik zitiert die Formsprache sakraler Kunst, Popkultur oder auch politischer Propaganda (Promised Paintings, 1998-2015 / Paintings for Poster, 1977 / Prayer Rug with Elvis, 1986) Eingewoben in diese formalen Brechungen ist dabei auch immer die Frage nach den Einflüssen von Politik, Religion und Geschichte auf nicht nur ihren persönlichen, sondern auch den zunehmend globalisierten Lebensalltag der türkischen Gesellschaft, im Besonderen den Alltag von Frauen. Karamustafa verarbeitet künstlerische und handwerkliche Traditionen Istanbuls und der Türkei im Umgang mit traditionellen Stoffen, Ornamenten oder auch Objekten türkischer Alltagskultur (Panther Stool, 2007).
Gerade in Nachbarschaft zu den im Hamburger Bahnhof ebenfalls gezeigten Ausstellungen wirken Karamustafas Arbeiten wie ein buntes, vielschichtiges Kuriosum; kraftvoll, voller Witz, Sensibilität, aber niemals eindimensional. Spürbar wird das gleich auf der Ausstellungsebene im Erdgeschoss, die räumlich nahtlos an die Sammlung Erich Marx und die dort gezeigten Arbeiten männlicher Kollegen wie Beuys, Kiefer und Warhol anschließt.
Unter der schwarzweißen Arbeit Le Visage Turc (dem schon beschriebenen Triptychon) liegt Karamustafas knallbunte Textil-Arbeit Illustrated History (1995) – ein überdimensionaler Patchwork-Kaftan, bebildert mit bunten Szenerien, die an ottomanische Ikonografie erinnern. Im offenen Nebenraum, nur wenige Schritte vom Kaftan entfernt, liegt Joseph Beuys’ monumentale Installation Das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts (1982) auf dem Boden. Die riesigen, grauen Blöcke aus Basaltstein konkurrieren gegen den ironischen Kitsch von Karamustafas Werk, das in seiner Naivität nicht nur mit der symbolischen Schwere des ottomanischen Kaftans bricht, sondern Beuys’ schwerwiegendes ‚Ende’ augenzwinkernd kommentiert. Hier ragt (bewusst oder unbewusst) räumlich die temporäre Retrospektive Chronographia in die dauerhafte Sammlungsausstellung Erich Marx hinein. Dabei werden interessante Blickkonstellationen produziert, durch die deutlich wird, dass die Wirkmacht von Karamustafas Schaffen über eine werkimmanente Betrachtung – eine subjektive Geschichtsschreibung – hinausgehen kann. Die Ausstellung ihres Gesamtwerks kann ebenso gut als Eingriff in die noch immer von Westkunst dominierte Ausstellungswelt des 21. Jahrhunderts (sinnbildlich die Sammlung Erich Marx) gedeutet werden. Karamustafas künstlerische Auseinandersetzung vor allem mit türkischer Alltagskultur – und der kritischen Hinterfragung des westlichen Blicks darauf – wird so zum erfrischenden Gegenpol zur Dominanz eines Beuys, Kiefer, Warhol und deren egozentrischer Selbstbefragung.
Schade ist jedoch, dass diese subtile Reibung mit den bestehenden Ausstellungen im Hamburger Bahnhof in Chronographia nicht explizit thematisiert wird. Das kann auf der einen Seite als Vertrauen den BesucherInnen gegenüber gedeutet werden, selbstständig jene Konstellationen zur Kenntnis zu nehmen und zu hinterfragen.
Stattdessen wird jedoch unbeholfen versucht, die Differenz zwischen der türkischen Künstlerin und dem dezidiert westlichen Schwerpunkt bestehender Ausstellungen über das Narrativ des ‚Globalen’ aufzulösen. Damit wird nicht nur die Möglichkeit einer kritischen Selbstbefragung (als Ausstellungsort) eingeschränkt, an einzelnen Stellen der Ausstellung wird diese Einordnung auch zum Problem für die künstlerischen Arbeiten selbst. So hat man sich entschieden, Karamustafa als Künstlerin des Globalen zu inszenieren: In den begleitenden Texten zur Ausstellung, wie auch dem Flyer und im Pressematerial, wird immer wieder betont, von welcher globaler Relevanz ihre Arbeiten seien und wie sich ihr Schaffen auf transnationale Ebene übertragen ließe. Problematiken und Themen wie Migration, Nomadismus, Gender, soziale Rollenbilder (die Karamustafa immer wieder bearbeitet) betreffen natürlich Dynamiken der Globalisierung, der Grenzüberschreitung, der Porosität fester (auch lokaler) Identitäten. Gleichzeitig nehmen in Karamustafas Werk aber auch gerade lokale Spezifika – insbesondere Ort und Stelle ihres Schaffens wie zum Beispiel Istanbul – eine zentrale Rolle ein. Viele Arbeiten wurden speziell in Auseinandersetzung und/oder für bestimmte Räume geschaffen, wie beispielsweise die Textil-Arbeit NEWORIENTATION (1995) oder die verschiebbaren Drahtkörbe Mystic Transport (1992).
NEWORIENTATION wurde von Karamustafa für die 4. Istanbul Biennale 1995 angefertigt und ursprünglich im Istanbuler Hafenbezirk Galata ausgestellt. Auf wehenden rosafarbenen Stoffbahnen stehen die Initialen von vermissten Frauen und die Daten ihres Verschwindens; Frauen, die in der Hafenstadt Istanbul vermutlich Zwangsprostitution und Menschenhandel zum Opfer fielen. Für Chronographia wurde NEWORIENTATION nun ‚neu aufgelegt’ – die fragilen Stoffbänder schweben von der Decke über der Verbindungsbrücke zwischen Ost- und Westflügel des Hamburger Bahnhofs. Anders als in der ursprünglichen Arbeit trifft der Blick durch die Stoffbahnen hindurch jedoch nicht auf das Meer. Liest man den zugehörigen Ausstellungstext, wird dem Besucher angeboten, den Blick stattdessen (notgedrungen) über das historische Panorama Berlins gleiten zu lassen, ganz „der Aussicht über die Bucht Istanbuls vergleichbar“. Hier läuft der Versuch, eine zeit- und ortsspezifische Arbeit zu aktualisieren, ins Leere. Die wohlgemeinte Idee der Kuratorin Roumiguière, die Arbeit Karamustafas mit dem Verweis auf die touristische Stadtkulisse zu aktualisieren, wirkt ungeschickt und beinah banal.
Die so plump proklamierte Übersetzbarkeit der Arbeiten Gülsün Karamustafas über Ort und Stelle ihres Entstehens hinaus ist hier an ihre – wortwörtlich – Grenzen gelangt. Schade ist, dass eine solche Unübersetzbarkeit nicht als Potential gedacht und ausgestellt werden kann; als Hinweis auf die Strukturen lokaler Kunstproduktion, die sich dem globalen Zirkulieren widersetzen – weil sie einzigartige Geschichten erzählen und kulturspezifisch sind; fähig, uns den Blick auf das ‚Andere’ zurückzuwerfen. Denn Karamustafas Arbeiten über Migration, Repräsentation, ‚Grenzverkehr’ im wortwörtlichen und übertragenen Sinn stellen Fragen nach den Zusammenhängen globaler Dynamiken (zu denen auch die Zirkulation von Kunst gehört) und deren lokalen Ursprüngen wie auch Konsequenzen. Dementgegen folgt Chronographia zeitweise dem Reflex, den Ursula Biemann in der Publikation zu Kültür (1997) – einem Projekt, bei dem auch Karamustafa Teil war – benennt: nicht-westliche künstlerische Positionen so in das eigene Narrativ zu integrieren, dass das Monopol von Inklusion und Exklusion zugunsten einer Aufwertung (oder Beibehaltung) der westlichen Ästhetik und der damit symbolisierten Werte beibehalten wird. Aber „[the curator has] the choice of either critiquing and transforming the existing power relations or reproducing them. Not asking this question usually leads to reproducing them.“[3]
Die Macher von Chronographia haben auf solche Fragen verzichtet – vermutlich, um ausschließlich dem künstlerischen Werk von Karamustafa Raum zu geben und ihm die ungeteilte Aufmerksamkeit zu schenken. Das funktioniert an einigen Stellen gerade dort gut, wo Gülsün Karamustafas Arbeiten zueinander in Beziehung treten, immanent im Dialog stehen. Nur eine, wie es im Ausstellungstext heißt, subjektive Geschichte zu schreiben, kann und sollte jedoch für eine Ausstellung von solcher Größenordnung im Hamburger Bahnhof nicht ausreichen. Denn gerade in der Ausstellung einer Künstlerin wie Gülsün Karamustafa, die permanent Fragen nach ‚dem Anderen’, ‚dem Fremden’ und der Beziehung zwischen Lokalem und Globalem stellt, muss sich ein Ausstellungsbetrieb für seine Ausstellungspraxis auch selbst diesen Fragen nach Übersetzbarkeit, Transfer und Kontextualisierung annehmen.
[1] Meltem Ahiska: Der imperiale Komplex und eine Ährenlese der Wunder der Moderne, Auszug aus dem Katalogtext der im Juli 2016 erscheinenden Publikation zur Ausstellung.
[2] Udo Kittelmann: Rede zur Eröffnung von Chronographia, Hamburger Bahnhof 09.06.2016.
[3] Ursula Biemann (Hrsg.): Kültür. Ein Gender-Projekt aus Istanbul, Zürich 1997. Zitiert nach http://www.geobodies.org/books-and-texts/kultur .
Gülsün Karamustafa. Chronographia
10.06.2016 – 23.10.2016
Hamburger Bahnhof – Museum für Gegenwart
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