Marinade verkrustet
Mire Lee & HR Giger im Schinkel Pavillon
Nadja Preyer
Have you seen Giger at Schinkel already? Steht man im Leben irgendwo zwischen Drittsemester an der UDK und erster Midlife Crisis wegen home office overdose in Kreuzkölln, dann ist es nicht unwahrscheinlich, dass man diese Frage im vergangenen Jahr mehr als nur einmal beantwortet hat. Gut, es gibt auch Menschen, die am Puls der Zeit leben und sich trotzdem nicht für obskure Installationen und düstere Weltallkreaturen interessieren. In dem Fall huschte aber ganz bestimmt das ein oder andere Mal Giger’s Alien durch die Instagram Story. Oder ein Bild des berghainesken Konferenztisches des 2021 scheinbar auferstandenen Schweizer Künstlers HR Giger. Doch wer fragt eigentlich: Oh my gawd! Did you check out Lee at Schinkel already? Berlin will Giger. Sind dabei die Arbeiten der Koreanerin Mire Lee untergegangen?
Es war mein zweiter Besuch in der instagramfreundlichsten Berliner Ausstellung des zweiten Pandemiejahres. Und dieses Mal waren zwei Dinge anders. Erstens: ich selbst betrat die Ausstellung mit einer grundlegend anderen Einstellung. Mein Fokus sollte dieses Mal ganz auf den dystopischen Arbeiten von Mire Lee liegen. Alien egal, Berghain-Office egal, sorry - HR who? Na gut, ein bisschen sollte es auch um das Verhältnis von Giger zu Lee gehen. Vor allem, da mit Agnes Gryczkowska eine Kuratorin am Werk war. Ausreichend grrrl power oder zu viel Hype um einen toten weißen Mann? Das wollte ich mit einem zweiten Blick auf die Kuration herausfinden.
Das „Endless House” ist am Ende
Dieses Mal fiel mir als erstes auf: dem Minimalismus zuliebe wurde konsequent auf jegliche Info-Labels verzichtet. All jene, die beim Betrachten von Kunst lieber auf den Blick ins begleitende Booklet verzichten, um die Ratio mal vor der Tür zu lassen, könnten gerade durch den Hype um HR Giger auf die Idee kommen, dass Lee’s Arbeiten von Giger gemacht wurden. Vor allem, wenn man sich vorher nicht ausgiebig über das Werk der Künstler*innen informiert hat. Das zumindest passierte mir bei meinem ersten Besuch. Anders war außerdem etwas im ersten Raum, der eigentlich mehr Raumschiff als Raum ist. Dort, wo mit Giger’s Alienfigur die Hauptattraktion steht, erschien Mire Lee’s kybernetisches Objekt Endless House im Vergleich zum letzten Mal seltsam tot.
Die Schläuche und Stahldrähte der 2021 entworfenen Arbeit, die sich Ende Oktober noch umständlich wie Gedärme durch den sie umgebenden Kokon gewunden hatten, standen nun geisterhaft still. Die vor einem Monat noch stoisch lärmende Pumpe schwieg. Keine kriechenden Stahldrähte auf feuchtem Betongerippe. Kein schmieriger Sound von mattgrauem Schleim. Nachfrage am Empfangstresen. Hier wurden teetrinkend voice messages verschickt, ein Hoch auf den Neuschnee, heute kein Hype. So bleibt Zeit für das Einholen von Informationen frisch von der Quelle.
Mire Lee’s Endless House sei vor einiger Zeit „explodiert”. Der graue Schleim habe sich dabei im gesamten Raum verteilt, vom Boden bis zu den Wänden. Natürlich wurde die Künstlerin sofort konsultiert. Ihre Reaktion: Na das ist doch super! Lee ist laut Erzählung des freundlichen Kassenpersonals mit dem ungeplanten Zwischenfall äußerst zufrieden. Ihre Begründung: Er zeige, dass ihre Maschinen ein Eigenleben führen und verweise auf die kybernetischen Abgründe, die Lee mit ihren Arbeiten ohnehin thematisiert. Schließlich müsse sich der Mensch, so Lee, um seine Maschinen kümmern - sonst können sie auch mal streiken. Ein Seitenhieb auf die Galerieführung?
Maschinen mit Selbstmitleid
Vielleicht war es ganz einfach Trauer, die Mire Lee’s Kreaturen zum Stillstand gebracht hat. Denn tatsächlich hat nicht nur die Installation Endless House aufgegeben. Auch die eindrucksvollen Arbeiten Carrier — Offsprings (2021), die im oberen Stock Giger’s Konferenztisch rahmen, schleimen und tropfen nicht mehr. Hier bereitete die Pumpe Probleme. Bleibt also noch eine der pitiful beings, wie Lee ihre Kreaturen liebevoll nennt: Untitled ist ein im Vergleich zu Carriers und Endless House winzig wirkendes, zerfranstes Etwas, dessen mini PVC-Schläuche und Drahtseilchen durch das permanente auf der Stelle kriechen auf dem rauen Fliesenboden des Schinkel Pavillons in alle Richtungen stehen. Im Vergleich zum Oktober hat Untitled im Dezember ganz schön an Substanz verloren. Es wirkte fast, als hätte der Fokus auf HR Giger den Maschinen von Lee einen gehörigen Stich in ihre Mechanikherzen versetzt. Die Kreaturen sind nun nicht mehr nur pitiful. Sie sind beim Selbstmitleid angekommen.
Dass Lee’s Maschinen still stehen, ist einerseits schade - andererseits ein willkommener Zwischenfall, wenn man eine Metapher für das latente Ungleichgewicht der Ausstellung sucht. Denn mit frischem Blick auf die Ausstellung hatte ich an manchen Stellen ganz klar das Gefühl, dass die in Amsterdam lebende Künstlerin mehr Aufmerksamkeit verdient hätte. Gerade durch den extremen Hype um HR Giger verblasst Mire Lee’s Name wohl schon im Vorfeld des Ausstellungsbesuches so sehr, dass viele Menschen kaum bis gar nicht wissen, von wem genau die faszinierenden Kreaturen stammen, die Giger’s Werke so hervorragend ergänzen, wenn nicht teilweise sogar überstrahlen. Das Giger in Berlin hot shit ist und demnach alle sowieso nur von ihm reden würden, war vorher abzusehen.
Konkret hätte man Mire Lee im ersten Raum der Galerie mehr Bühne verschaffen können. Schließlich werden hier ganze vier Werke von Giger und nur eines von ihr gezeigt. Die Kuration würde nun vielleicht auf die Videoarbeit Faces verweisen, die ebenfalls am Anfang gezeigt wurde. Allerdings abseits der Hauptattraktion des Alien, versteckt in einem kleinen Raum. Auch ein Info-Screen, vielleicht zwischen dem ersten und zweitem Raum, auf dem Lee und Giger’s Arbeiten bündig skizziert werden, wäre kein Hexenwerk.
Von Mire Lee selbst existieren im Web nur wenige Fotos und so gut wie keine Videos. Einer der raren Momente, in dem sie bei der Arbeit zu sehen ist, zeigt die Künstlerin mit einem ihrer kinetischen Objekte. „It’s like marinating” sagt sie mit einem zurückhaltenden Lachen, während sie die am Boden schlängelnde Skulptur mit einer dunkelgrauen, schmierigen Masse einreibt. Dass genau diese Marinade, mit der die Künstlerin ihren Kreaturen Leben einmassiert, kurz vor dem Ende der Ausstellung im Schinkel Pavillon verkrustete, scheint wie ein weiteres, passendes Sinnbild für das Aufgeben von Lee’s Maschinen, kurz bevor das Licht ausging.
Die Ausstellung HR Giger und Mire Lee war vom 18. September bis 2. Januar im Schinkel Pavillon geplant und wurde bis zum 16. Januar verlängert. Ab dem 22. Januar werden weiterhin Werke von HR Giger gezeigt, denen Arbeiten des Surrealisten Hans Bellmer gegenübergestellt werden. Die Ausstellung läuft bis zum 20. März.
HR Giger & Mire Lee
18. September 2021 – 16. Januar 2022
Schinkel Pavillon
Oberwallstraße 32
10117 Berlin