Ein Versuch, das Historische apolitisch zu betrachten
In Deutschland: reloaded (II), Kicken Berlin
Ruri Kawanami
Die kleine private Kicken Gallery in der Linienstraße ist von draußen kaum zu finden. Am Eingang befinden sich keine auffälligen Schilder und man wird normalerweise nur nach Klingeln eingelassen. Am 30. April ist die Galerie jedoch überfüllt, die Vernissage der Fotoausstellung In Deutschland: reloaded (II) findet im Rahmen des Berlin Gallery Weekends statt. Die geheimnisvollen und etwas dunklen Räume der Galerie beherbergen die schwarzweiße Fotosammlung bis zum 2. September.
Mehrere Fotos nehmen Bezug auf die Ausstellung In Deutschland. Aspekte gegenwärtiger Dokumentarfotografie, kuratiert von Klaus Honnef und Wilhelm Schürmann aus dem Jahr 1979. In der Retrospektive von 35 Jahren mag man das Ende der 70er Dekade als eine Phase des Aufbruchs begreifen, in der die aufkeimenden Aktivitäten in Kunstvereinen und Museen sowie von Kuratoren, Galeristen und Photographen ein verstärktes reflektiertes Bewusstsein gegenüber dem technischen Bildmedium einforderten. Diese neue Fotografie stellte sowohl die spezifischen Formen der visuellen Sprache, als auch die Position und den Blick des Fotografen auf die sichtbare Wirklichkeit in Frage.
Was aber die Ausstellung im Rheinischen Landesmuseum in Bonn ebenso bedeutend machte, war die Herkunft der Fotos. Mit Werken aus der ehemaligen DDR (von Helga Paris, Sibylle Bergemann, Thomas Leuner) konnte man einen seltenen Einblick in die künstlerischen Arbeiten aus dem Osten Deutschlands gewinnen.
Für die neue Runde der legendären Ausstellung hat die Kicken Gallery die Kuratoren Honnef und Schürmann wieder eingeladen, um die Atmosphäre der späten 1970er Jahren in der zwei-teiligen Ausstellung wiederherzustellen und mit einem 35-jährigen Abstand kritisch zu betrachten. Nach der erfolgreichen ersten Runde In Deutschland: reloaded (I), kuratiert von Honnef, erweitert sein Kollege Schürmann in der zweiten Ausgabe das Spektrum im Rückblick auf die damalige Bildauswahl. Mit seiner Revision versucht er, die damalige Situation aus heutiger Sicht neu zu bewerten: Wie kann das historische Projekt heute gegenwärtig gemacht werden?
Schürmanns Blick richtet sich auf dokumentarische Sichtweisen in West- und Ostdeutschland in den späten 1970en Jahren bis in die Gegenwart, so führt die Ausstellungsbroschüre die Besucher in die schwarzweiße fotografische Welt ein. Da ich nicht im geteilten Deutschland gelebt habe gehören der Osten und Westen für mich schon längst der Geschichte an. nach den politischen Spuren, betrete ich die Ausstellung. Ich erwarte Kontraste, Vergleiche und instruktive Beispiele, wie die Trennung üblicherweise in Geschichtsbüchern dargestellt wird. Ich finde sie aber in der Ausstellung nicht.
Ein besonderes Interesse des Kurators gilt der ihm damals noch völlig unbekannten DDR-Fotografie. Helga Paris, beispielsweise, verkörpert besonders den sachlichen und doch teilnehmenden Blick auf Menschen, Häuser, Räume, Straßen, Ereignisse in ihrer Serie Halle. Häuser und Gesichter (1983-85). Paris’ Fotos erzählen eine Geschichte vom alltäglichen Leben im ostdeutschen Halle, von den Spuren gelebten und ungelebten Lebens. Ich habe Halle fotografiert wie eine fremde Stadt in einem fremden Land – versucht, alles, was ich wissen und verstehen könnte, zu vergessen, schrieb sie damals im Vorwort des Ausstellungskataloges.
Ich kann die Straßen auf den Fotos erkennen, denn ich habe ein Jahr in Halle verbracht. Die Menschen kommen mir erstaunlicherweise auch bekannt vor: zwei junge Frauen, deren Gespräch von der Fotografin unterbrochen wurde oder eine ältere Dame, die mit vollen Tüten auf die Straßenbahn wartet. Mein amerikanischer Freund fragt mich, ob Halle zum Westen oder zum Osten gehörte. Wenn man sich nicht mit den typischen ostdeutschen Frisuren auskennt, ist der Teil des getrennten Landes von den Gesichtsausdrücken oder der gesamten Atmosphäre her nicht sofort begreifbar.
Der Fotoserie Paris’ gegenüber befindet sich eine Porträtsammlung von Gabriele und Helmut Nothhelfer. Die wenigen ausgewählten Fotos stellen den Besuchern ein breites Spektrum an Alter, sozialer Lage und Zeit vor. Ein älteres Paar auf einer Kundgebung auf dem Theodor-Heuss-Platz, aufmerksam und lächelnd; ein junger Mann mit Matrosenkragen auf dem Fest der Generationen, ebenso konzentriert zuhörend aufgenommen. In diesem Moment merke ich, dass die beiden Fotos die gleiche Geschichte erzählen: eine Geschichte vom Menschlichen. Es geht hier nicht um die Ideologie oder das Alter, nicht um die Differenzen, sondern ganz gegenteilig – um die gemeinsame Lebenswelt
Wilhelm Schürmann erwähnt die Politik in seiner Rede zur Ausstellungsöffnung nicht. Die Aufnahmen aus den konträren politischen Systemen wurden nicht miteinander verglichen. Stattdessen thematisieren die Porträts und die Fotos des Alltags die gesamtdeutsche Gesellschaft vor der Wende, um ein Bild des reloadeten Deutschlands zu zeigen. Die Ausstellung erweckt ein scheinbar nostalgisches Gefühl, obwohl ich die Realität des getrennten Landes persönlich nie erfahren habe. Die Nostalgie beweist: Manche Dinge müssen nicht gegenwartstauglich sein.
In Deutschland: reloaded (II)
29. April – 2. September 2016
Kicken Gallery
Linienstr. 161A
10115 Berlin