Kolonialismus im Kasten?
Audio-Guide Kolonialismus im Kasten? von Manuela Bauche, Dörte Lerp, Susann Lewerenz, Marie Muschalek und Kristin Weber in der Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums
Leonie Schmiese
Die Dauerausstellung des Deutschen Historischen Museums (DHM) soll einen Einblick in rund 1500 Jahre deutscher Vergangenheit ermöglichen. 7000 Ausstellungsstücke erzählen von geschichtlichen Abläufen und Ereignissen bis ins ausgehende 20. Jahrhundert. Die Deutsche Kolonialgeschichte allerdings bleibt fast unsichtbar. Dargestellt wird sie lediglich in einer halb unter der Treppe versteckten Vitrine innerhalb des Ausstellungsabschnitts zum Deutschen Kaiserreich.
Bezogen auf diesen Kolonialkasten gehen fünf Historikerinnen der Initiative Kolonialismus im Kasten? der Frage nach, wie genau die Geschichte des deutschen Kolonialismus – sofern überhaupt – im DHM dargestellt wird. Der gleichnamige Audio-Guide Kolonialismus im Kasten? ist komplett unabhängig vom Museum produziert worden, lässt sich im Internet als Podcast herunterladen und erinnert daran, dass Deutschland Kolonialmacht war und eine deutsche Geschichte von kolonialer Gewalt, kolonialem Rassismus und wirtschaftlicher Ausbeutung existiert. Dieser Teil der Geschichte wird allerdings fast immer ausgeblendet – eine bruchstückhafte Darstellung, die sich auch in der Dauerausstellung des DHM wiederfindet.
Im ersten Titel des Audio-Guides heißt es: „Unser Audio-Guide will drei Dinge: erstens an den deutschen Kolonialismus erinnern, zweitens im Blick haben, was das mit unserer Gegenwart zu tun hat und drittens aufmerksam machen auf die Lücken in der Dauerausstellung des DHM.“ Die einzelnen Titel von Kolonialismus im Kasten? befassen sich mit der Zeit des Deutschen Kaiserreichs – also mit der Epoche, in der Deutschland Kolonien besaß. Dieser Ausstellungsabschnitt befindet sich im ersten Obergeschoss des DHM. Orientiert an den Texttafeln des Museums gibt es zu ausgewählten Abschnitten jeweils einen gleichnamigen Audiobeitrag. Die Tour beginnt bei einer beleuchteten Säule mit dem Titel Das Bismarck Reich 1870-1890 und endet in dem Ausstellungsbereich, der sich mit dem Ersten Weltkrieg befasst. Die einzelnen „Meilensteine“, so die Eigenbezeichnung des Museums – eckige beleuchtetet Informationssäulen – sind chronologisch aufgebaut und leiten die BesucherInnen von Epoche zu Epoche in jeweils durch Trennwände abgesteckte Bereiche.
Im Ausstellungsabschnitt mit dem Titel Mythos Preußen befinden sich zum Beispiel verschiedene Bilder und eine verkleinerte Replik der Original-Statue des Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Schlüter (1620-1688). Alle Ausstellungsstücke thematisieren also symbolträchtige Ereignisse oder Personen der preußisch-deutschen Geschichte. Ein Bild irritiert jedoch: Neben der Texttafel hängt das Gemälde Preußisches Liebesglück (1890) von Emil Dörstling, auf dem ein Liebespaar abgebildet ist. Eine weiße junge Frau umarmt einen dunkelhäutigen Mann in preußischer Uniform. Der Mann wird in der Bildunterschrift als Gustav Sabac-el-Cher vorgestellt, ein Militärmusiker, der 1868 in Berlin geboren wurde. Zweifelnd steht man als BesucherIn vor jenem Gemälde und fragt sich, wie das Preußische Liebesglück wohl im Verhältnis zum Preußischen Mythos steht. Die kleine Texttafel liefert keine Erklärung zu dieser höchst problematischen Darstellung des „schwarz-weißen“ Paares und das eindrückliche Bild irritiert erst und macht dann ratlos.
Innerhalb des Ausstellungsbereichs Mythos Preußen trägt das DHM selbst zu einem Mythos bei: Die Ausstellung blendet entscheidende Aspekte kolonialer Geschichte hier aus und zeichnet das Bild einer glücklichen Liebesbeziehung, ohne die BesucherInnen über mögliche Hintergründe des ausgestellten Gemäldes zu informieren.
Im Audio-Guide wird jedoch eine Annäherung gewagt und so wird klar, dass die Geschichte der Familie Sabac-el-Cher eng mit der des preußischen Herrscherhauses verbunden ist. Als Sklave kam der Vater des abgebildeten jungen Mannes an den preußischen Hof und heiratete schließlich eine deutsche Frau. AfrikanerInnen im Dienste des Königshauses – beispielsweise als MusikerInnen – dienten dazu, das Prestige und die Verbindung der jeweiligen Herrscherhäuser in den als „anders“ und fremd konstruierten „Orient“ und dessen Kultur zu zeigen. Ohne diese Zusatzinformationen von Kolonialismus im Kasten? wird allerdings der Eindruck eines toleranten und weltoffenen Preußens vermittelt, wo schwarze Menschen anerkannt und integriert waren. Die Bildunterschrift verschweigt die Rassismen, denen diese Menschen täglich ausgesetzt waren und zeichnet das Bild einer „erfolgreichen Integration“, ohne auf die damaligen massiven Proteste gegenüber sogenannten „Mischehen“ einzugehen.
Ein weiterer Ausstellungsabschnitt mit dem Titel Die Gesellschaft im Kaiserreich konzentriert sich auf Bevölkerungs- und Wirtschaftsentwicklung zwischen 1819 und 1914. In diesem Teil lassen sich zum ersten Mal konkrete Hinweise auf die deutsche Kolonialgeschichte finden. Auf der Rückseite der ausgeleuchteten Säule finden sich sehr klein gedruckt und versteckt zwei Tabellen, die ohne den Audio-Guide nicht aufgefallen wären. In der einen wird der weltweite Kolonialbesitz nach Staaten sortiert aufgeführt, während die zweite antikoloniale Bewegung in Afrika zwischen 1881 und 1919 auflistet. Die Tabellen stehen in keinem Zusammenhang mit der Ausstellung. Sie sind ausgelagert und abgetrennt von den restlichen Geschehnissen dargestellt. Nichtsdestotrotz bilden sie in ihrer willkürlich anmutenden Präsentation einen der wenigen Hinweise auf die Kolonialgeschichte im DHM – ganz so als habe der Kolonialismus nichts mit den vorher thematisierten Geschehnissen im Reichstag, der Entwicklung der Wissenschaften oder dem Aufkommen der Massenmedien zu tun.
Im Audio-Guide wird hingegen betont, dass der Kolonialismus keine Randnotiz des deutschen Kaiserreichs ist, sondern sich durch seine gesamte Geschichte zieht und somit grundlegend mit ihr verbunden ist. Die einzelnen Texttafeln werden von den Historikerinnen auditiv erweitert und auf die lückenhafte oder einseitige Beschreibung und Darstellung einzelner Objekte wird hingewiesen. Zusätzlich wird Hintergrundwissen vermittelt, beispielsweise über den brutalen Krieg des deutschen Militärs gegen Herero und Nama in Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia. Ein Ereignis, das von der Bundesregierung in diesem Juli erstmals in einem offiziellen Dokument als Völkermord eingestuft wurde. Innerhalb der Dauerausstellung wird außerdem die Westafrika-Konferenz, die 1885 in Berlin stattfand, an keiner Stelle thematisiert.
Kolonialismus im Kasten? macht zusätzlich auf die von Männern dominierte Geschichtsschreibung aufmerksam, die zum Beispiel in den Objektbeschreibungen vom DHM übernommen wurde. Eine kleine Vitrine zu Frauen und der Kolonialbewegung wurde inzwischen gänzlich aus dem Museum entfernt. Die Rolle der Frau innerhalb kolonialisierter Länder beispielsweise in Form der Viktimisierung der „unterdrückten Anderen Frau“[1] als Legitimation kolonialer Herrschaftssysteme ist genauso zentral, wie die Rolle von Frauen als kolonialisierende Akteurinnen. Die Rolle von gender wurde und wird zwar innerhalb der feministisch-postkolonialen Theorie thematisiert, allerdings versäumt das DHM es komplett, diese bereits existierenden Diskussionen in die Ausstellung einzubeziehen.
Der Name des Podcasts Kolonialismus im Kasten? bezieht sich auf den schon erwähnten Kolonialkasten – eine große Glasvitrine, die sich ausdrücklich mit der deutschen Kolonialgeschichte befasst und sich halb versteckt unter einer Treppe befindet. Auf der Texttafel zu jenem Kasten lassen sich weder Einzelheiten zu den Eroberungen bestimmter Gebiete, noch zur Unterwerfung und Ausbeutung der dort lebenden Menschen finden. Der Kolonialkasten enthält ein Sammelsurium unterschiedlicher Funde, die von einem Kolonialbeamten stammen können. Neben Bildern, Kaffeedosen und einer Uniform, fällt ein Fotoalbum auf, das das Zentrum der Vitrine bildet. Es handelt sich um das Album eines deutschen „Schutztruppen“-Soldaten und zeigt eine brutale Hinrichtungsszene. Diese besonders grausame schwarz-weiß Fotografie wirft Fragen auf: „Wie geht man mit solchen Quellen in einer Ausstellung um? Was kann man zeigen? Und wie kann man es zeigen und besprechen? Wie lässt sich der historische Zusammenhang verdeutlichen und gleichzeitig die Erinnerung und Würde der Opfer wahren, die darauf zu sehen sind?“ Im Audio-Guide wird betont, dass die Verantwortlichen des DHM hier auf die reine Aussagekraft ihrer Ausstellungsobjekte vertraut haben müssen. Gerade Fotografien gelten als genaue Abbildung dessen, was geschehen ist. Dass es sich hierbei um einen Ausschnitt handelt, der das Davor und Danach ausblendet wird nicht besprochen. Das Foto soll für sich stehen und als BesucherIn ist man allein gelassen mit der Abbildung einer Folterszene, ohne eine Erklärung, eine Analyse oder eine kritische Einordnung zu erhalten. Neben der unmöglichen Darstellung der einzelnen Objekte im Kolonialkasten beschränkt sich das Museum also auf rein deskriptive Arbeit in den Beschreibungstexten. So werden die Notizen eines Zeitzeugen, die neben die Fotografie gekritzelt wurden, als für sich selbst sprechend alleingelassen.
Die Sicht auf den Kolonialismus – sofern überhaupt thematisiert – bleibt einseitig. Bei den ausgestellten Artefakten handelt es sich um Gegenstände aus den Händen der Kolonisierenden, was die Kolonisierten wiederum zu Objekten macht und ihnen ihre Rolle als handlungsfähige Subjekte abspricht. Die kurzen Begleittexte gleichen dies nicht aus, sie lassen geschichtliche Zusammenhänge aus und setzten der Sicht der KolonialherrscherInnen keine Position entgegen. Dabei, so macht der Audio-Guide klar, ließen sich anhand aller Ausstellungsstücke auch Gegengeschichten erzählen, beispielsweise vom Widerstand gegen koloniale Gewalt oder auch von den Auswirkungen der Kolonialzeit auf die deutsche Gesellschaft. Beim Besuch des DHM musste ich an die Arbeit des argentinischen Literaturwissenschaftlers Walter Mignolo denken in der verdeutlicht wird, wieso die Kolonialgeschichte in der so genannten „westlichen“ Welt ständig ausgeblendet wird: „There is a double implication: Western civilization is both the generator and the result of coloniality. That is why coloniality is the darker side of western modernity and that is why the triumphal narrative of modernity has to hide the logic of coloniality.“[2]
Wenn es also eine Möglichkeit gäbe, den „kolonialen Blick“ außer Kraft zu setzten, dann doch am ehesten innerhalb des Museums als Ort von Wissensvermittlung. Diese große Chance des Museums und der Ausstellung als seinem Medium wurde vom DHM vertan. Oder in anderen Worten: Die Kunst des Ausstellens besteht darin, das „Ungedachte ins Denken zu ziehen, dasjenige sicht- und spürbar zu machen, was (…) aus guten oder schlechten Gründen ignoriert, verdrängt, untergeordnet oder marginalisiert wurde.“ [3] Diese von Daniel Tyradellis als „produktiv“ beschrieben Kraft des Museums bleibt in der Dauerausstellung aus. Auf den alten gesicherten Bahnen des Denkens erfolgt die Wissensvermittlung über die deutsche Kolonialgeschichte im DHM, die – sofern überhaupt dargestellt – unreflektiert und ausgelagert erfolgt, ohne in irgendeinen geopolitischen Kontext gesetzt zu werden.
Die Idee der Historikerinnen von Kolonialismus im Kasten? schafft dagegen – trotz der mangelhaften Darstellung des DHM – einen gelungenen und vor allem vollständigen Überblick über die deutsche Kolonialgeschichte zu vermitteln. Gleichzeitig verweist der Audio-Guide aber auf die Diskrepanz und Frage, ob ein Neudenken nur von außen – in Form einer komplett unabhängigen Initiative – kommen und so Einzug in die Institution Museum finden kann. Die Umwandlung des Museums scheint durch ihre Beschränkung auf die auditive Ebene utopisch zu sein und zeigt einmal mehr die Abkopplung zwischen Forschung und Museumswissenschaft, die hier auf den Punkt gebracht wird. Gäbe es mehr institutionelle Verschränkungen, hätte die postkoloniale Wende vielleicht schon lange Einzug ins DHM und in öffentliche Diskurse allgemein gefunden.
[1] Castro Varel, Maria do Mar und Nikita Dhawan (2009): „Europa provinzialisieren? Ja, bitte! Aber wie?“. In: Femina Politica 18(2), S. 9-19.
[2] Mignolo, Walter (2011): Border Thinking, Decolonial Cosmopolitanism and Dialogues among Civilizations. In: Maria Rovisco & Magdalena Nowicka (eds.): The Ashgate Research Companion to Cosmopolitanism. Farnham: Ashgate. S. 431.
[3] Tyradellis, Daniel (2014): Müde Museen. Oder: Wie Ausstellungen unser Denken verändern könnten. Hamburg, S. 146.
Audio-Guide „Kolonialismus im Kasten?“ von Manuela Bauche, Dörte Lerp, Susann Lewerenz, Marie Muschalek und Kristin Weber.
Download umsonst unter www.kolonialismusimkasten.de
Dauerausstellung
Deutsches Historisches Museum
Unter den Linden 2
10117 Berlin
www.dhm.de