Big Mama is watching you
Nervöse Systeme im Haus der Kulturen der Welt
Janna Kienbaum
Ein helles Zirpen aus einem Fernsehlautsprecher durchzieht die große Ausstellungshalle, deren Geräuschpegel trotz ihrer Größe gedämmt wirkt. Ein Telefon klingelt, einzelne Wortfetzen sind zu hören. Das Licht ist fahl. Metallene Stangen mit roten flirrenden Lichtern ragen vom Boden bis an die Decke, systematisch in einem Raster, dem Grid, angeordnet. Dazwischen verschachtelt: Leinwände mit Videoinstallationen, Tafeln mit Bildern und Flatscreens, mal aufrecht hängend, mal liegend. Die Metapher des menschlichen Nervensystems als Informationssystem und die Analogie zum digitalen System beginnen zu greifen in der Ausstellung „Nervöse Systeme: Quantifiziertes Leben und die soziale Frage“ im Haus der Kulturen der Welt in Berlin.
Die Ausstellung erklärt das Gefühl der Nervosität zum offiziellen Diskurs und orientiert sich an der Schnittstelle menschlich sensorischer Reize und dem Prinzip der digitalen Systeme, die 1956 u.a. mit der Begriffsbegründung der „Künstlichen Intelligenz“ von dem Kybernetiker John McCarthy ihren Ursprung fand. Die florierende Kybernetik und Informationstheorie mit Claude Shannon als Begründer hatten erheblichen Einfluss auf die Definition der Information als messbare Größe bzw. quantifizierbare Form, die ihren unmittelbaren Bezug zu den Belangen der Menschen verloren hat.
Mit der Ausstellung wollen die Kuratoren, u.a. der Leiter des HKW Anselm Franke und Stephanie Hankey vom Tactical Technology Collective, zum reflektierenden Umgang mit digitalen Quantifizierungsmaßnahmen anregen, anhand derer Online-Unternehmen wie Google virtuelle Kopien der UserInnen in Form von Messdaten und Zahlen in ihre Datenbanken einspeisen. Auch sollen die Auswirkungen von behördlichen Ausspähungsstrategien und Big Data mit der Ausstellung hinterfragt werden. Die Lösung dieser Problematik bleibt allerdings nach der Besichtigung eher eine offene Frage.
Mehr als 25 zeitgenössische Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen widmen sich dem Verhältnis zwischen Körperlichkeit, Information und Maschine sowie der Frage nach dem Stellenwert demokratischer Grundprinzipien wie Privatsphäre und Datenschutz. Die Videoinstallation „Patterns of Life“ von Julien Prévieux zeigt, wie aus Körperbewegungen objektivierbare Muster und Daten zu Verhaltensanalysen gewonnen werden. Das Schaubild „I don’t want to be like anyone else“ des Konzeptkünstlers Stephen Willats analysiert die Rolle der Frau in der britischen Nachkriegsgesellschaft anhand eines kybernetisches Schaltplans. Von der „!Mediengruppe“ stammt eine lebensgroße, begehbare Rekonstruktion von dem Schlaf- sowie Arbeitszimmer des seit 2012 in der ecuadorianischen Botschaft in London festsitzenden Wikileaks-Gründers Julian Assange.
Inhaltlich verliert sich das Thema der nervösen digitalen Unterwanderung von Körper, Politik und Gesellschaft in eher dystopisch intendierten, abstrakten Darstellungen, die teilweise ohne bestimmte technische, medienästhetische Vorkenntnisse nur schwer zu erschließen sind. Gestalterisch hingegen beeindrucken die Kunstwerke, sind interaktiv – zum Abspielen eines Videos, muss der Besucher eine bestimmte Nummer wählen, die mit einem Rückruf den Film freischaltet – und überraschen durch ihre vernetzte Anordnung…
Mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis zieht es einen in das karge, „rhizomartige“ Gerüst aus metallenen Stangen, deren Verwebungen die Ausstellungsobjekte bilden, hinein. Befremdlich, surreal und doch faszinierend ist die Atmosphäre – durchgehend hörbar das bizarre Sirren im Hintergrund. Eine Anspielung an den Soziologen Niklas Luhmann und seine Systemtheorie? Luhmanns deskriptive Theorie des sozialen Systems, anhand derer er die Struktur komplexer gesellschaftlicher Konstellationen zu erklären versucht, scheint hier in einem anderen Kontext plastisch erfahrbar zu werden: Es scheint einem die zunehmende Kraft des „digitalen nervösen Systems“ zur Selbstreferentialität/Autopoiesis vor Augen geführt zu werden, einem geschlossenen System, das sich aufgrund seiner intern funktionierenden Kommunikation aufrecht erhält bzw. immer wieder aus sich selbst zu entstehen vermag und die „Fähigkeit [besitzt], Beziehungen zu sich selbst herzustellen und diese Beziehungen zu differenzieren gegen Beziehungen zu ihrer Umwelt.“
Vor allem der white room soll Gelegenheit bieten, sich von der potenziellen Gefahr dieser digitalen Eigendynamik marktorientierter Datenspeichersysteme zu entfremden, indem er sie ästhetisch dekonstruiert – der Film „Radimparency“ parodiert beispielsweise die Arbeitswelt technisch innovativer Start Ups, in denen alles Normale für langweilig erklärt wird. Entwickelt wurde der white room vom Tactical Tech Collective, einem in Berlin ansässigen Kollektiv von Aktivisten, Technologen und Praktikern, das sich für die Freiheit und Gerechtigkeit im digitalen internationalen Netz einsetzt und die Ausstellung zusammen mit dem HKW organisiert hat.
Mit seiner strahlend weißen Fläche soll er eine Persiflage des aseptisch anmutenden Schulungs- und Verkaufsraums eines Apple-Stores darstellen: Ein fiktives buntes Logo, kubische Tische mit weißen Kopfhörern, Tablets, Artefakten und Informationskarten, an der Längsseite ein mit Tablets ausgestatteter Bartresen. Alle ausgestellten Objekte sind wie angepriesene Ware frei beweglich. Durch seine intensive Leuchtkraft zieht der white room sofort den Blick an und wirkt wie eine Art Kommandozentrale als Zentrum der Ausstellung. Gelungen ist die effektvolle Anspielung auf die freiwillige Datenpreisgabe der Individuen und der daraus gewonnene Profit: Innerhalb des Raumes beschleicht einen neben der positiven Gespanntheit wieder ein Unbehagen. Die gelassene Wahrnehmung der präsentierten Gadgets und Texte innerhalb dieses Raumes wird von dem Gefühl gestört, in dem Spotlight des Neonlichts ständig beobachtetet zu werden.
Um den Kommerz-Charakter symbolisch zu verstärken, bieten die MitarbeiterInnen des Tactical Tech Collective jeden Samstag, Sonntag und Montag als „Bar Worker“, gekleidet ganz in Weiß, Workshops oder Beratungen zu den Funktionsweisen digitaler Endgeräte an.
„Big Mama“ lautet der Name eines der drei weißen Tische. Der „große Bruder“ stößt hier in der Thematik an seine Grenzen der allgegenwärtigen Kontrolle. Der permissiv freundliche Charakter der staatlichen Überwachung verschwindet hinter dem Decknamen der Mutter als „Fürsorgestaat“ und entpuppt sich „erst“ auf den zweiten Blick als „E-Government“ oder „Digitalagentur“. Das Video über das Projekt „Eye Cloud“ des Unternehmens Mastercard dient als Beispiel, das via Tablet und Kopfhörer die Erstellung eines biometrischen Personalausweises durch Irisabtastung zeigt und für eine reibungslosere Registrierung von Flüchtlingen in den Vereinten Nationen sorgen soll.
Auch die „Bar“ besticht durch ihre Helligkeit und wirkt auf den ersten Blick „einladend“. Sie ruft Gewohnheit bei dem Besucher hervor, der solch eine Art Tresen aus der alltäglichen Coffee Bar oder dem modernen Warengeschäft kennt. Statt einem zum Kauf angepriesenen Tablet oder Smartphone, stößt der Besucher allerdings auf eine Buchreihe mit dem Titel „Forgot your password?“. Hier wird der Besucher selbst zur Ware: Ästhetisch gelungen wird ihm seine Rolle als Spielball der Datenquantifizierung vor Augen gehalten, indem er in den Seiten mit 4,7 Millionen alphabetisch sortierten Passwörtern blättern kann, die von dem sozialen Netzwerk „linkedin.com“ aufgezeichnet wurden. Inhaltlich wird hier der allgemein bekannte Ist-Zustand der Datenspeicherung und -überwachung offenbart.
Insgesamt überzeugt die Ausstellung „Nervöse Systeme: Quantifiziertes Leben und die soziale Frage“, die vom 11. März bis 09. Mai im Haus der Kulturen der Welt in Berlin zu sehen ist (war), vor allem mit ihrer Konzeption und der davon ausgehenden Wirkung der Immersion in ein digitales Informationssystem.
Auffällig ist der elitäre Anspruch, den die Ausstellung inhaltlich mit ihrem teilweise sehr spezifischen Fachwissen setzt und generell nur eine bestimmte (junge, akademische) Zielgruppe anspricht. Trotz dieser fachspezifischen Programmatik wird ein aktueller Erkenntnisgewinn, wie im alltäglichen Umgang der unbewusst vorherrschenden Nervosität digitaler Systeme entgegengewirkt werden kann, eher nicht geboten. Die thematisierte Nervosität, die permanente Datenaufzeichnung der sensiblen digitalen Sensoren, scheint sich auf den Besucher zu übertragen. Sinnlich beansprucht vom flirrenden Neonweiß des white rooms und den Geräuschen, verlässt man die Ausstellung gewollt nervös, nervös genug, um seine Wachsamkeit bezüglich der Quantifizierungsmethoden zu erhalten.
Nervöse Systeme
11. März bis 09. Mai 2016
Haus der Kulturen der Welt
John-Foster-Dulles-Allee 10
10557 Berlin
www.hkw.de