Ein offener Prozess: Zuhören, Erinnern und Aktiv-werden.
Die Ausstellung Offener Prozess im Maxim Gorki Theater Berlin
Friederike Seidel
Zwischen 2000 und 2007 ermordete der NSU zehn Menschen. Bei den Ermittlungen ist vieles schiefgelaufen. Spuren zu möglichen Komplizen der bekannten Täter:innen wurde nicht richtig nachgegangen, Akten wurden vernichtet, die Familien der Opfer wurden fälschlicherweise als Täter:innen beschuldigt. Bis heute sind die Morde nicht vollständig aufgeklärt und viele Fragen bleiben offen.
Die (Wander-)Ausstellung Offener Prozess befindet sich aktuell im Studio R des Maxim-Gorki-Theaters. Sie beschäftigt sich mit eben diesen Morden und fasst dabei nicht die Täter, sondern besonders die Opfer und ihre Familien ins Auge sowie die Umstände, die diese Taten möglich gemacht haben. Beleuchtet werden in diesem Zusammenhang die Lebensrealitäten von sogenannten Gastarbeiter:innen, Migrationsgeschichten und die rechtsterroristische Gewalt im Alltagsrassismus vor allem in Ostdeutschland.
Mehr Sein als Schein
Man betritt die Ausstellung über eine kleine unscheinbare Tür direkt gegenüber vom Deutschen Historischen Museum. Am Eingang bekommt man sein Ticket, ein paar Kopfhörer, falls man selbst keine dabei hat, sowie Informationen zum begeleitenden Vermittlungs- und Diskursprogramm. Danach wird man anhand von kleinen, rosafarbenen Pfeilen am Boden zu den Ausstellungsräumlichkeiten geführt. Da gibt es in der ersten Etage den ersten Teil und im Hof in einem gesonderten Gebäude den zweiten Teil der Ausstellung. Der erste Teil besteht aus 11 kleineren Räumen, in denen sich ein bis drei Ausstellungstücke befinden.
Die Ausstellung wirkt auf den ersten Blick minimalistisch, entpuppt sich jedoch als unglaublich umfassende Aufarbeitung der Thematiken. Die Beiträge erstrecken sich von Videos über Videoinstallationen bis hin zu Animationen und Podcasts. Es gibt Beiträge von fünf Minuten, aber auch welche, die fast 30 Minuten dauern. Deshalb würde ich den Tipp geben, sich wirklich Zeit zu nehmen und gegebenenfalls ein zweites Mal vorbeizuschauen, denn es ist wichtig, hier zuzuhören.
Das Prinzip der Ausstellung lässt sich anhand des ersten Raumes gut beschreiben. In der Mitte stehen zwei kleine Tische, auf denen jeweils zwei Bildschirme installiert sind. Man kann pro Display zwei Kopfhörer anschließen und bei Bedarf die Gehörlosen- oder Blindenfassung starten. Daneben befindet sich eine Ausstellungstafel mit Titel, Autor:innenschaft, Jahr, Länge des Videos sowie Hashtags. Diese Hashtags kann man in einem Chatbot auf seinem Smartphone eingeben und gelangt so zu weiteren Informationen zur Kontextualisierung der Exponate. Wer diese Möglichkeit jedoch nicht nutzen kann oder will, kann genauso gut auf das Begleitheftchen zurückgreifen, in dem in etwa dieselben Informationen zu finden sind.
Die Perspektive der Ausstellung, eben die betroffenen Menschen zu Wort kommen zu lassen, bildet sich auch im Aufbau dieser ab, indem zunächst Erfahrungsberichte und Geschichten von Gastarbeiter:innen und Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland gezeigt werden. Beispielhaft werden im ersten Raum zwei Filme gezeigt. Der erste wurde 1975 von Želimir Žilnik aufgenommen und porträtiert die Bewohner:innen eines Mietshauses, die als sogenannte Gastarbeiter:innen nach Deutschland gekommen sind und nun über ihre Herkunft und über ihre finanzielle und soziale Situation in Deutschland berichten. Das zweite Video ist eine Neufassung nach dem gleichen Prinzip des soeben genannten von 2021 und wurde in Chemnitz von Pinar Öğrenci aufgenommen. Die Bewohner:innen berichten von ihrem täglichen Kampf gegen den Rassismus der dort lebenden Menschen. Deutschland wird in diesem Video, im Gegensatz zum ersten, dabei nicht mehr als vorübergehende, sondern als dauerhafte Heimat für Migrant:innen dargestellt.
Zuhören, Erinnern, Aktiv-werden
Die Ausstellung leistet einen wichtigen Beitrag zum Gedenken an die NSU Opfer. Sie ist ein Ort für Geschichten, die gehört werden sollten. Das Zuhören wird hier als politische Praxis verstanden, da es eine Grundlage für das Verstehen bildet. Diese Ausstellung ist ein Ort des Erinnerns mit dem Unterschied, dass das Erinnern hier als Prozess verstanden wird. Es ist ein lebendiges Erinnern, das das Geschehene nicht nur abgeschlossen in die Vergangenheit schiebt, sondern Kontinuitäten aufzeigt, die Thematik in die Gegenwart holt und die Perspektive marginalisierter Gruppen in den Mittelpunkt rückt. Es wird zum Aktiv-werden aufgefordert. Die Künstlerin Ülkü Süngün schlägt vor, bei der Aussprache der Namen der Opfer anzufangen. Dazu gibt es im zweiten Teil der Ausstellung ein Video, bei dem sie den Besucher:innen die korrekte Aussprache der Namen zum Mitsprechen beibringt.
Publikum? Wie immer!
Abgesehen von den vielen Konzepten der Wissensvermittlung der Ausstellung bleibt die Frage, wen sie nun in der Praxis wirklich erreicht. Findet sich hier wieder das typische Museumspublikum? Und wie kann man ein breiteres Publikum erreichen? Das Thema ist schließlich für alle relevant.
Ausstellung zu Hause
Besonders hervorzuheben ist der Onlineauftritt der Ausstellung. Man findet dort eine tolle Zusammenfassung des Themas in Textform und als Trailer mit optionaler Gehörlosenfassung. Außerdem kann man, sollte man die Ausstellung nicht besuchen können oder verpasst haben, sich alles anzuschauen, das Angebot der Webausstellung nutzen, in der 23 der Videoclips aus der Ausstellung zu finden sind. Auch diese gibt es in einer Hörfilmfassung. Zudem findet man ein digitales Methodenhandbuch, welches man sich auf der Website herunterladen und ausdrucken kann. Das Handbuch enthält einen Reader zur Aufarbeitung des NSU-Komplexes, auch hier mit besonderem Augenmerk auf die Mordopfer, deren Kurzbiografien darin vorgestellt werden.
Bleibt zu sagen: eine Ausstellung, die jede und jeder besucht haben sollte!
Kuratiert wurde die Ausstellung von Ayse Gülec und Fritz Laszlo Weber.
Zur Ausstellung gibt es außerdem ein Rahmenprogramm „Immer wieder Deutschland“, welches Migration, Rassismus und Rechtsextremismus in Form von Performances, Podiumsdiskussionen und Konzerten thematisiert.
Offener Prozess
01. Oktober bis 12. Dezember
Studio R, Maxim Gorki Theater
Am Festungsgraben 2
10117 Berlin
https://www.gorki.de/de/offener-prozess-ausstellung/2021-10-25-1600