Miteinander Leben – Fürsorge und Widerstand in anhaltenden Krisenzeiten
On Illness, Resistance and Modes of Collective (Health) Care bei District*Schule ohne Zentrum
Rosa Blens
Gefühle, Krisen und Krankheit(en) als kollektive Anliegen anzuerkennen und sie in ihrer Komplexität zu thematisieren, ist Konzept und gelungene Umsetzung der Ausstellung „On Illness, Resistance und Modes of Collective (Health) Care“ bei District * Schule ohne Zentrum. Dem Themenkomplex Krankheit/Widerstand/Gesundheitsversorgung nähert sich die Ausstellung in vier Kapiteln:
#1 (Bad) Feelings / (Schlechte) Gefühle,
#2 Collective Kinship and Care / Kollektive Zugehörigkeit und Fürsorge,
#3 Solidary and Self-organised (Health) Care / Solidarische und selbstorganisierte (Gesundheits)versorgung und
#4 Memory and Care Activism/ Erinnerungs- und Care-Aktivismus.
„On Illness, Resistance und Modes of Collective (Health) Care“ ist eine Veranstaltungsreihe mit Vorträgen, Zusammenkünften und Performances, Ausstellung und Rechercheprojekt. Die Ausstellung soll “erste, fragmentarische Einblicke in die aktuellen Rechercheprozesse geben“.[i]
Mein Besuch beginnt auf dem ehemaligen Industriekomplex „Malzfabrik“ in Berlin- Tempelhof. Am hinteren Ende des Geländes erblicke ich, etwas versteckt, die schwere metallene Eingangstür, welche von einem überdimensionierten Keramikfuß einen Spalt breit offengehalten wird. Von innen dringt Licht nach außen in die kalte Novemberluft und auf das graue, von Beton und Backstein geprägte Fabrikgelände. Innen erwartet mich ein heller Raum. Hängende Textilien erzeugen eine warme, einladende Stimmung. Die Ausstellung erstreckt sich über zwei Räume sowie den sie verbindenden Flur und versammelt thematisch und medial heterogene künstlerische Positionen, partizipative Elemente und der Recherche zu Grunde liegende Literatur.
Ich beginne meinen Rundgang in einem mit Stoffen vom restlichen Ausstellungsbereich abgegrenzten Raum, der mit einer fellartigen Unterlage, Pflanzen und Rosenduftzerstäuber dazu einlädt, sich hinzusetzen und anzukommen. Die Künstlerin und Kuratorin Nuray Demir lädt hier dazu ein, über die transformierende Kraft von Tränen nachzudenken, den heilsamen Duft der Rose einzuatmen und über tägliche Fürsorgerituale zu reflektieren, welche wir für uns und Andere etablieren können. (Selbst-)Fürsorge wird von Nuray Demir sowohl als Potenzial einer radikalen Grenzsprengung zwischen den neoliberal atomisierten Individuen thematisiert, als auch in ihrer Gefahr in Form von Selbstoptimierung eine Kollaboration mit dem kapitalistischen System einzugehen.
Innerhalb der Ausstellung „On Illness, Resistance und Modes of Collective (Health) Care” werden die gegenwärtigen globalen Krisen als Krisen der Fürsorge verstanden. Fehlende Fürsorge für die Natur(en), fehlende Fürsorge innerhalb der Gesundheitsversorgung, fehlende Fürsorge für Ältere, Kinder, verletzliche Menschen.[ii] Während der anhaltenden pandemischen Lage ist diese Auseinandersetzung mit kollektiven Gesundheits- und Fürsorgeansätzen aktueller denn je. Wie der Philosoph Paul B. Preciado in seinem im April 2020 erschienenen Text „Vom Virus lernen“ schreibt, ist das „… als freier und unabhängiger Körper verstandene moderne Individuum [...] nicht allein die Utopie der liberalen Ökonomie, sondern auch der Standard der biopolitischen Immunität.“[iii] Neoliberale individualistische Versuche, „Immunität“ herzustellen, münden, so Preciado, in einer Politik, in der das Virus immer „der Fremde, der Andere, der Ausländer“[iv] ist. Eine „…immunitäre Politik, von der die gegenwärtige Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, der Mythos von Schengen und die von Frontex aufgebotenen Gewalttechniken durchdrungen sind“.[v] Der von ständigen Grenzschließungen durchzogenen Politik des Krisenmanagements stellt sich das Erproben von kollektiven (Health) Care Ansätzen entgegen.
In der Ausstellung wird auch deutlich, wie sich metaphorische und reale Grenzziehungen auf verschiedenen Ebenen ereignen – und wie ihnen begegnet wird. So thematisiert Christa Joo Hyuen D’Angelo in der Videoarbeit „Protest and Desire“, wie Women of Color mit den Themen Intimität, Sex und Alter in Bezug auf HIV und sexuell übertragbare Krankheiten innerhalb des weißen Europas umgehen. Die Videoarbeit konzentriert sich auf die 49-jährige Lillian aus Uganda, welche aufgrund ihrer HIV-Erkrankung seit 2002 in Deutschland lebt. Migration bedeutet hier einerseits dahin zu gehen, wo die Medikamente sind, andererseits die tägliche Konfrontation mit der weißen, rassistischen Gesellschaft. Lilian macht im Interview darauf aufmerksam, wie die Zugänge zu Medikamenten zur HIV-Prävention auch dort, wo es sie gibt, für verschiedene Personengruppen erschwert werden: PreP für schwule Männer? - ja klar! PreP für migrantische Frauen? - wieso?
Doch auch Grenzziehungen innerhalb aktivistischer feministischer Gruppen werden thematisiert: In der Arbeit „A special Issue in Power – an engagement with Radical Therapy“ beschäftigt sich die Künstlerin Inga Zimprich mit der Frage, wie in feministischen Therapie- Kontexten Herrschaft ausgeübt und Rassismus, Antisemitismus, Ableismus und Heterosexismus fortbestehen – und wie dem entgegengewirkt wird.
Radical Therapy ist eine Form der selbstorganisierten Gruppentherapie, die in den 60er-Jahren entstand. Sie sollte zur Demokratisierung und Entprofessionalisierung therapeutischer Werkzeuge und Arbeit dienen und aktive Selbstheilung anregen. Aufgrund von Sexismus in der Radikalen Therapeut*innen-Szene gründete die marxistische Feministin Hogie Wyckhoff Selbsthilfegruppen für Frauen. In den 1980er-Jahren gründete Ghail Peterson mit dem Feminist Alliance Project RT-Gruppen, in denen explizit gegen Unterdrückung und Herrschaft innerhalb von Frauengruppen mit Frauen aus unterschiedlichen sozialen Positionen gearbeitet wurde. Inga Zimprich führt in ihrer Arbeit in die Geschichte feministischer Radikaler Therapie ein und untersucht die Allianzen zwischen Frauen auf ihre Machtstrukturen. Sie fragt dabei, wie und ob es möglich ist, therapeutische Räume zu schaffen, in denen Machtstrukturen unter den Praktizierenden bearbeitet werden können und in denen sich alle gleichermaßen wohlfühlen.[vi]
Obwohl die Ausstellung räumlich klein erscheint, verbringe ich mehrere Stunden hier. Die behandelten Themen treffen mich auf verschiedenen Ebenen: im Alltag, in meinem Zusammenleben mit Anderen, in meiner feministischen Praxis, situiert in einer anhaltenden pandemischen Krise, in einer more-than-human-world in der schon Fürsorge für andere Menschen schwierig ist. Die Ausstellung wird mir ein Raum zum Verweilen, zum Nachdenken und Nachfühlen. „On Illness, Resistance and Modes of Collective (Health) Care“ bietet so die Möglichkeit, am Rechercheprozess teilzuhaben und sich dabei als handlungsfähiges Subjekt innerhalb der Krisen of Care, der Machtnetze und Grenzziehungen zu begreifen. Das Projekt, „negative“ Gefühle als politische Potenziale umzudeuten und dabei nach kollektiven Formen der Fürsorge zu suchen, ist für mich mit dem Ausstellungsbesuch nicht abgeschlossen. Auf dem Nachhauseweg denke ich an meine Schwestern, meine Freund*innen, meine Mutter, meine Geliebten, meine Mitbewohner*innen.
Künstler*innen und Beteiligte sind Johanna Ackva, Nuray Demir, Discoteca Flaming Star (CGB, Sara Pereira, Sofia Lomba, WM), Christa Joo Hyun D’Angelo, Katrin Dinges, Eugen Januschke (denkmal PositHIV e.V.), Rully Malay (Waria Crisis Center), Karin Michalski & Ann Cvetkovich, Clara Moenchswald, Kallia Kefala, Todd Lanier Lester (Luv til‘ it hurts), Platz da! Barrierefreie Kulturvermittlung, Power Makes Us Sick, Queer Indonesia Archive, Ferdiansyah Thajib, Sophie Utikal und Inga Zimprich (Feministische Recherchegruppe).
Kuratiert wurde die Ausstellung von Andrea Caroline Keppler in Zusammenarbeit mit Ferdiansyah Thajib, Nino Halka, Johanna Ekenhorst und Nuray Demir.
[i] District Berlin: “On Illness, Resistance and Modes of Collective (Health) Care”, in District Berlin, http://www.district-berlin.com/de/on-illness-resistance-and-modes-of-collective-health-care/ (Zugriff 17.01.21).
[ii] On Illness, Resistance and Modes of Collective (Health) Care.
[iii] Preciado, Paul B.: „Vom Virus lernen“ in HAU. Hebbel am Ufer, https://www.hebbel-am- ufer.de/hau3000/vom-virus-lernen/, veröffentlicht am 7.4.2020 (Zugriff: 17.01.21).
[iv] Ebd.
[v] Ebd.
[vi] Vgl.: District Berlin: „Feministische Radikale Therapie und Allianzen zwischen Frauen“, in District Berlin, http://www.district-berlin.com/de/feministische-radikale-therapie-und-allianzen-zwischen-frauen/ (Zugriff 17.01.21).
On Illness, Resistance and Modes of Collective (Health) Care
14. Oktober bis 27. November 2021
District Berlin
Bessemerstraße 2-14
12103 Berlin