On Illness, Resistance and Modes of Collective (Health) Care
District*Schule ohne Zentrum
Małgorzata Mirella Kielak
Eine Welt, in welcher das Streben nach finanziellem Überfluss und figurativer Opulenz einen Schatten auf individuelles Wohlbefinden und kollektive Fürsorge wirft, ist ein unfairer Spielraum. Sie priorisiert die Bedürfnisse und beschleunigt die allseitige Entwicklung derer, die über das größere materielle oder soziale Kapital verfügen, vernachlässigt ärmere, unterprivilegierte Personen und vertieft somit die Diskrepanz zwischen den Lebensqualitäten innerhalb der Gesellschaft. Die scheinbare Chancengleichheit ist ein konstitutiver Bestandteil des Kapitalismus. ‚The American Dream‘ ist nur eine von vielen Manifestationen der Begierde nach Wohlstand, welche die fälschliche Überzeugung perpetuieren, man könne jeglichen Grad von Reichtum erlangen, wenn man nur hart genug arbeiten, wenn man nur die Zähne zusammenbeißen, wenn man nur ein bisschen durchziehen würde. Um in diesem System nicht unterzugehen, bedarf es der vollen Hingabe für diese grundlosen Werte, die einen Großteil unserer Energie beansprucht und uns zu bedenkenlosen, profiterzeugenden Spielfiguren macht. Wir verherrlichen den Karriereerfolg auf Kosten sowohl körperlicher, als auch psychischer Gesundheit und bestrafen uns mental, wenn wir es nicht über die menschlichen Grenzen zum mystifizierten – und freilich überschätzten – Ideal des Selbst schaffen.
Eine alternative Perspektive wird in der Ausstellung On Illness, Resistance and Modes of Collective (Health) Care vorgeschlagen. Diese wurde von Andrea Caroline Keppler in Zusammenarbeit mit Ferdiansyah Thajib, Nino Halka, Joanna Ekenhorst und Nuray Demir kuratiert und konnte vom 14. Oktober bis zum 27. November 2021 im queer-feministischen Kunst- und Kulturzentrum District, platziert auf dem Gelände der Malzfabrik in der Nähe des Südkreuz in Berlin, besucht werden. Sie gewährt Einblicke in den aktuellen Rechercheprozess zur gegenwärtigen globalen Krise der Fürsorgebeziehungen und bietet Ansätze zur Bewältigung der Symptome dieser Kalamität, oder gegebenenfalls dem Umgang mit diesen. Die Krise wird als „das Ergebnis einer jahrzehntelangen neoliberalen, extraktivistischen Politik, in der Profit Vorrang vor Menschen hat“ beschrieben.
Die video- und audio-lastige Ausstellung ist auf zwei, mit einem Flur verbundenen, Sälen ausgelegt und kann unter Begleitung eines Hefts erkundet werden, welches die Grundrisse der Räume und Informationen zum gesamten Projekt, sowie den einzelnen Stationen und KünstlerInnen, bietet. Ein Inhaltsverzeichnis oder eine Nummerierung der Werke im Raum und auf Papier würden für einen nahtloseren Einstieg und Durchgang sorgen.
Betritt man den ersten Raum fühlt man sich zunächst durch mehrere Sinneseidrücke zu der „Sharing Tears“ Ecke der Kuratorin Nuray Demir hingezogen. Zu sehen ist eine Plattform, die von einem weißen Schleier umgeben und mit einigen grünen Pflanzen ausgeschmückt ist, aus welcher ein rosiger Dampf aufsteigt. Beginnt man seinen Besuch mit dieser Station, hat man den perfekten Anlass, sich der Idee der Ausstellung hinzugeben. Die BesucherInnen sind nämlich eingeladen ihre Schuhe auszuziehen, den weichen Teppich zu betreten und sich mit Rosenöl einzureiben oder mit Rosenwasser zu besprühen. „Sharing Tears“ thematisiert Melancholie und Widerstand und schlägt ein Self-Care-Modell vor, das entgegen dem neoliberalen Selbstoptimierungsdrang etabliert werden könnte. Dieser erste interaktive Haltepunkt versetzt die Besuchenden in die Position der aufmerksamen gegenseitigen Sorge und Selbstfürsorge, was eine Kernaussage der gesamten Ausstellung ist. Im Raum sind mehrere Video- und Audioprojekte zu finden, welche marginalisierte Stimmen hervorheben und diesen unzensierte Ausdrucksgelegenheiten gewähren. Zu den besprochenen, beziehungsweise dargestellten, Themenbereichen gehören Alltagsbewältigung und Müdigkeit, doch der Schwerpunkt liegt auf dem Zusammenspiel von Rassismus, Misogynie, Queer-Feindlichkeit und jeglichen Stigmata im HIV-Diskurs. Eine nächste Gelegenheit zur Interaktion bietet sich an der Station „LUV Spiel“. Alle BesucherInnen dürfen sich einen Zettel in beliebiger Farbe und Form aussuchen und eine Notiz hinterlassen. Die Botschaften sollen sich auf HIV-Stigmata beziehen und können an jemanden gerichtet sein oder eine Geschichte erzählen. Das „LUV Spiel“ regt zum Nachdenken und der aktiven Verarbeitung der in der Ausstellung hervorgehobenen Informationen und Erfahrungen an. Unabhängig davon, ob sich die BesucherInnen entscheiden, tatsächlich etwas aufzuschreiben, verhindert diese Einladung zur Reflektion einen passiven Durchgang.
Macht man sich auf den Weg durch den Flur zum zweiten Raum, wird man von PMS (Power Makes Us Sick) Postern begleitet. Die Plakate behandeln Sachverhalte wie soziale Verantwortung, autonome emotionale Unterstützung und Selbsthilfe. Präsentiert werden nicht nur vorbildliche Lebensmodelle und Einstellungen, sondern auch konkrete Vorgehensweisen. Im Sinne emotionaler Selbsthilfe, zum Beispiel, werden Atemübungen, Visualisierungstechniken und „Body Scans“ beschrieben. Wann habe ich das letzte Mal wirklich auf meinen Körper gehört? Wo endet mein leibliches Gefäß und wo beginne ‚ich‘? Sind wir überhaupt zwei separate Einheiten? Wie fühlt es sich an, in der Welt zu ‚sein‘? Bevor sie bei dem zweiten Teil der Ausstellung ankommen, schwirren in den Köpfen der BesucherInnen unzählige Fragen, die durch ihren besinnlichen Charakter die Betroffenen vom dumpfen, alltäglichen Gedankenfluss in einen Zustand der, idealerweise neutralen und potenziell fruchtvollen, Selbstreflektion versetzen.
Diese Stimmung erweist sich als passend, um sich der Aufnahme „The Alpabet of Feeling Bad“ von Karin Michalski und Ann Cvetcovich hinzugeben. In der Performance werden negativ konnotierte oder ‚schwierige‘ Begriffe von A bis Z aufgelistet. Alle Wörter werden erläutert, sodass man diese als kollektive Alltagserfahrung zu verstehen beginnt und sich ihrer Menschlichkeit bewusst wird. Die Künstlerin sitzt auf einem ungemachten Bett, auf welchem Kleidung, Zeitung, Pillen und eine Zigarettenkippe zu sehen sind. Es entsteht ein Bild, das weit von dem berüchtigten Ideal ist, womit sich sicherlich die meisten Besuchenden identifizieren können. Das Werk kritisiert die Tabuisierung negativer Gefühle und Erfahrungen und ruft zu ihrer Anerkennung auf, als Gegenmodell zur toxischen Positivität – besonders bekannt in der Onlinekultur als die ‚good vibes only‘-Einstellung. Den Großteil des zweiten Saals überzieht die Installation von Inga Zimprich unter dem Titel „A Special Issue in Power – an engagement with Radical Therapy“. Sie besteht aus Wandbildern und -texten, mehreren Exemplaren der „The Radical Therapist“ Zeitschrift aus den 1970er und 80er Jahren, Essays und Audioaufnahmen von Interviews mit ForscherInnen und AktivistInnen, die im Bereich der Radikalen Therapie (RT) tätig waren. Die Aufarbeitung der RT-Bewegung, welche bereits in den späten 1960er Jahren aufblühte und „ihr therapeutisches ‚Werkzeug‘ demokratisieren und entprofessionalisieren wollte[n], um es als Mittel für soziales Empowerment und politischen Wandel anzubieten“, sorgt für eine grundlegende Historisierung des Diskurses. Zusätzlich kann man sich Zeichnungen und ein Wollobjekt von Clara Moenchswald anschauen, die Geschöpfe aus ihrer Kunsttherapie sind. Neben der ausführlichen theoretisch-soziologischen Abhandlung von RT, bekommt man also einen Einblick darauf, wie alternative Therapieformen in der Praxis aussehen können. Man betrachtet die Früchte der Bewältigung von psychischem Schmerz – ein besonders berührender, auch wenn nur kleiner und zunächst unauffälliger, Teil der Ausstellung. „When they returned to their bodies they returned home“ ist eine fünfteilige Reihe von Textilarbeiten, auf welchen unbekleidete Körper in unterschiedlichen dynamischen Positionen in abstrahierter Form aufgenäht sind. Die Künstlerin Sophie Utikal geht darauf ein, dass Wissen auch über körperliche Erfahrungen generiert wird und nicht nur, wie in der „westlichen“ Konvention angenommen, aus dem Verstand konstituiert wird. Die einzelnen Wandteppiche sind in beiden Räumen der Ausstellung verteilt und treten dadurch wie ein verknüpfender Faden auf.
Die Reihenfolge, in welcher die Stationen gesichtet werden, scheint unbedeutend zu sein. Das erlaubt eine individuelle Erforschung und Vertiefung der einzelnen Themenbereiche, was Hand in Hand mit der Care und Self-Care Atmosphäre der Ausstellung geht. Eine sichtlich provisorische Ausstattung, sparsam gestaltete Präsentation der Arbeiten und der unscheinbare Standort lassen von einem eingeschränkten Budget ausgehen, was die Fülle der angesammelten Informationen und Qualität ihrer Verarbeitung in den Projekten noch beeindruckender macht. Da im District die 2G+ Regel beachtet wurde, konnte die Ausstellung trotz der pandemischen Lage unbesorgt besichtigt werden. Die informationsreiche, kapitalismuskritische Ausstellung zur Gesundheitsversorgung und kollektiver Fürsorge wäre zweifellos eines Ticketkaufs wert, und doch wurde sie kostenlos angeboten.
On Illness, Resistance and Modes of Collective (Health) Care
14. Oktober bis 27. November 2021
District Berlin
Bessemerstraße 2-14
12103 Berlin