Cyprien Gaillard – Where Nature Runs Riot bei Sprüth Magers, Berlin
Leonie Schmiese
Im Rahmen der Ausstellung Where Nature Runs Riot zeigt der französische Künstler Cyprien Gaillard seine 3D Video-Arbeit Nightlife aus dem Jahr 2015. In der Berliner Galerie Sprüth Magers wird hierfür eine riesige Leinwand installiert, auf welcher der Film für drei Monate zu sehen ist. Bereits vorm Betreten des Raumes – beim Ausgabetresen der 3D-Brillen etwa, der sich im Eingangsbereich befindet – schallt zwar gedämpft, aber trotzdem laut, eine sich ständig wiederholende Melodie durch die Galerie, die sich vom Eingang hoch in die anderen Ausstellungsräume zieht und das ganze Gebäude zum Vibrieren zu bringen scheint.
Es handelt sich um ein Sample des Songs „Black Man’s World“, einem Rocksteady Klassiker von Alton Ellis. Der Künstler Gaillard wählte neun Sekunden des Refrains aus, verzerrte sie seltsam und ließ sie sich in ihrer gesampelten Version ständig wiederholen. Das Sample hat etwas Gespenstisches mit seinen langgezogenen, etwas zu hellen Tönen. Alton Ellis verweist in seinem Refrain „I was born a loser“ auf die massive Diskriminierung von Schwarzen in den USA. Zwei Jahre nachdem das Lied 1969 erschienen war, wurde es jedoch umgeschrieben: Der Refrain lautete von diesem Zeitpunkt an „I was born a winner“.
Es ist also jenes Lied, das die BesucherInnen gewissermaßen umhüllt, sobald sie den großen Raum der Installation betreten. Oder eher schon vorher, da die Melodie dumpf in allen Räumen der Galerie zu hören ist. Kein Wunder also, dass die bearbeitete Version innerhalb des Hauptraumes unglaublich laut ist – allerdings nicht unangenehm schrill, sondern angenehm dumpf und hypnotisch, sodass man sich ihr nicht mehr entziehen kann oder will.
Innerhalb des Ausstellungsraumes bildet eine komplette Wand die Leinwand. Sie scheint so riesig, dass man sich zwangsläufig klein fühlt. Einerseits durch ihre tatsächliche Größe, andererseits auch durch die dreidimensionale Optik, durch die alles vergrößert scheint. Durch die 3D-Brille wird im ersten Moment zusätzlich das Gefühl vermittelt, auf einem Vorsprung zu stehen und hinab in ein gigantisches, erleuchtetes Tal zu schauen. Auf einem Steinvorsprung vielleicht, da der Boden aus kühlem Beton besteht. Alle Szenen wurden von Gaillard nachts gedreht. Die Dunkelheit beschränkt sich aber nicht auf das Video. Auch der große Ausstellungsraum ist fensterlos und die Wände sind schwarz gehalten, was eine Reduktion auf die Lichter im Film bewirkt. Die künstliche Beleuchtung durch riesige Scheinwerfer, die Gaillard nutzt, hat gleichzeitig etwas Unheimliches und Schönes.
Der Film beginnt mit einer Aufnahme von Rodins Denker-Skulptur. Es handelt sich um eine Monumental-Reproduktion des Pariser Originals aus dem Jahre 1882. Kreisförmig bewegt sich die Kamera um das Denkmal, dessen Sockel bei einem Anschlag irreparabel zerstört worden ist. Die Skulptur mit beschädigten Beinen wurde allerdings in ihrem kaputten Zustand vorm Cleveland Museum of Art in Ohio wiederaufgestellt und bildet den Auftakt für Gaillards Video.
Die Aufnahme wechselt abrupt. Zur Musik bewegen sich nun Bäume – eine plötzliche Dynamik nach der Bronzeskulptur, die den stillen Mittelpunkt der ersten Aufnahme bildete. Die Bäume, die man jetzt sieht, wirken im Scheinwerferlicht unwirklich satt in ihren Farben. Durch einen starken Wind wiegen sie sich unaufhörlich hin und her – es ist schwer zu sagen, ob sie zur Musik tanzen oder mit ihren langen Ästen aufbegehren und versuchen, sich in einer Art Kampf zu befreien.
Während die Bilder der Palmen und Bäume, sowie der Rodin-Statue in den USA aufgenommen wurden, wechselt der Schauplatz in der dritten Szene. Von oben wird das Berliner Olympiastadion gefilmt. Es ist von einem Feuerwerk umgeben, das jährlich zur Pyronale, einem Feuerwerkswettbewerb, dort veranstaltet wurde und wird. Die 3D-Aufnahme aus der Vogelperspektive fängt die glitzernden, bunten Funken der Feuerwerkskörper ein und vermittelt das Gefühl, als ZuschauerIn selbst mitten in der Explosion zu schweben, während das Stadion darunter immer kleiner wird.
In einer letzten Aufnahme – auch diese folgt ohne Übergang, sondern mit einem bloßen Schnitt, der nicht abrupt, sondern weich und behutsam wirkt – wird eine große deutsche Königseiche gezeigt. Die Kamera nimmt wieder ihre kreisförmige Bewegung auf und filmt so die dichten Äste des alten Baumes. Das Video geht zu Ende und die Musik verstummt nur kurz, um direkt danach mit der ersten Aufnahme des Denkers wieder einzusetzen.
Gaillards Auswahl der eindrucksvollen Bilder ist keinesfalls willkürlich. Vielmehr braucht es etwas Abstand und eine gewisse Zeit, bis sich die Bilder wie ein Puzzle in ihrer Aussage zusammensetzen können. Von der Rodin-Statue, die von einer linksmilitanten Organisation, die gegen Rassismus in den USA kämpfte, zerstört wurde, bis zu der Eiche, die bei den Olympischen Spielen 1936 in Berlin dem US-Amerikaner Jesse Owens geschenkt wurde, da dieser vier Mal die Goldmedaille gewann. Owens Siege wurden weder von den Nationalsozialisten, noch von seinem, von Rassismus geprägten Heimatland je anerkannt. Die Königseiche pflanzte er trotzdem in Cleveland, dem Ort, an dem er für den Wettkampf trainierte. Dort steht sie bis heute, genau wie der Denker von Rodin.
Des Weiteren kommen die sich wiegenden Bäume nicht etwa ursprünglich aus Amerika; weder die Palmen noch der Wacholder, der seinen Ursprung in Südostasien hat. Beide Pflanzenarten prägen heute wie selbstverständlich Kaliforniens Landschaftsbild, ohne dass man sich ihrer eigentlichen Heimat bewusst wäre.
Cyprien Gaillard schafft es in seiner Videoarbeit, Zusammenhänge herzustellen und diese sichtbar zu machen. Und zwar nicht mithilfe von Schrift oder Sprache, sondern durch die Kombination von gigantischen dreidimensionalen Bildern. Sie alle werden mit dem sich ständig wiederholenden Refrain unterlegt, der einem nicht mehr aus dem Kopf gehen will. Der Trancezustand der sich wiegenden Bäume scheint sich schleichend auf die BesucherInnen zu übertragen – oder umgekehrt.
Erst wenn man den großen Raum verlässt, die Brille absetzt und sich die Bilder noch einmal ins Gedächtnis ruft, kommt die Frage auf, wie genau sich die unterschiedlichen Bestandteile des Videos zu einem Ganzen verknüpfen lassen. Ein Ganzes, das von Entfremdung und Entwurzelung, von Rassismus, Diskriminierung und Zerstörung erzählt, aber auch von Neuanfängen und Umdeutung – nicht zuletzt aufgrund der Umdichtung von „I was born a loser“ zu „I was born a winner“. Einige Hintergrundinformationen lassen sich in der ausliegenden Ausstellungsbroschüre nachlesen. Allein durch das Anschauen des Films werden die komplexen Zusammenhänge, die so viele Bereiche gleichzeitig berühren und anprangern, nicht klar.
Das Wissen über menschliche Schicksale – wie etwa das von Jesse Owens – soll mithilfe menschenleerer Orte vermittelt werden, die trotzdem mit Erinnerungen aufgeladen sind oder von historischen Ereignissen zeugen. Jene Orte der Vergangenheit wurden durch hochmoderne Technik eingefangen und aufgezeichnet. Die HD Aufnahmen wirken aber weder fehlplatziert, noch gewollt. Gaillard verschleiert durch die beeindruckende mediale Darstellung kein Wissen, sondern schafft hierdurch den Schlüssel zu der Vermittlung selbst. Statt die BesucherInnen zu überladen oder zu benebeln kreiert er ein Ganzes, das in Erinnerung bleibt. Die Art und Weise, auf die der Künstler dieses Ganze in seinen Zusammenhängen erzeugt, wirkt nachhaltig und regt zum Nachdenken an. Ich würde sagen, der Film wirkt nachhaltiger als im Moment des Schauens selbst. Zu eindrucksvoll sind die Aufnahmen, als dass man sie direkt nach einer message untersuchen möchte.
Gaillards Arbeit überzeugt durch diese enorme Wirkmacht auf die eigenen Sinneseindrücke und ihren Immersionseffekt, ohne zu überspitzen oder zu überfordern. Während man als BesucherIn während des Filmes noch das Gefühl hat, sich in den Bildern und der Melodie aufzulösen und die eigene Körperlichkeit für diese Dauer vergisst, setzt hiernach das Nachdenken umso stärker ein und hallt nach. Verlässt man das Gebäude, kann man gar nicht anders, als sich zu fragen, was es mit diesen Bildern und dieser Melodie eigentlich genau auf sich hat…
Cyprien Gaillard – Where Nature Runs Riot
2.Mai–16.Juli 2015
Sprüth Magers
Oranienburger Straße 18
10178 Berlin
www.spruethmagers.com