Wenn Zettelwirtschaft auf Museum trifft
Angezettelt – Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute im Deutschen Historischen Museum
Arne Meenen
An der Kasse des Deutschen Historischen Museums (DHM) bekommt man statt einer Eintrittskarte einen Ankleber, den man gut sichtbar tragen soll. Schon vor dem Betreten einer einzigen Ausstellung wird der Besucher gewissermaßen „angezettelt“.
So lautet auch der Name einer neuen Sonderausstellung im DHM, die sich mit dem Medium Aufkleber auseinandersetzt. Das Wortspiel im Titel verweist aber sogleich auf den inhaltlichen Fokus der Ausstellung: Sie soll zeigen, dass Klebezettel durch ihre oftmals ungehinderte Verbreitung im öffentlichen Raum seit jeher für rassistische und antisemitische Botschaften missbraucht wurden und immer noch werden. Damit rückt die Ausstellung ein oft unterschätztes Mittel der Hetze prominent in den Vordergrund.
Die Ausstellung ist in Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Antisemitismusforschung an der Technischen Universität Berlin entstanden. Auf 400qm widmet sie sich in fünf Teilbereichen der Geschichte des Klebezettels sowie seiner heutigen Verwendung und Verbreitung. Die zentralen Ausstellungsobjekte sind dabei mehrere hundert Aufkleber, die über alle Themenbereiche hinweg an den Wänden kleben. Viele davon sind historische Stücke und stammen aus der privaten Sammlung des jüdischen Holocaust-Überlebenden Wolfgang Haney. Sie sind in diesem Umfang erstmals der Öffentlichkeit zugänglich. Fast ebenso viele der ausgestellten Aufkleber stammen aber aus der Gegenwart und aus dem alltäglichen Straßenbild.
Mit einem Stromkasten, einer Toilettentür und einem Papierspender sind drei Gegenstände beinahe beiläufig im Ausstellungsraum positioniert, die die Aufkleber in ihrem ‚natürlichen Umfeld’ zeigen. Kreuz und quer und vielfach übereinander geklebt sind dort die verschiedensten Bilder und Botschaften zu sehen; eine Vielfalt an Ausdrucksformen. Die eigentlichen Ausstellungsstücke hingegen sind an den Wänden fein säuberlich aufgereiht.
Durch diesen deutlichen Gegensatz ist der nötige Verweis auf die Abstraktionsleistung getan, die die Ausstellung erbringt, aber gleichzeitig auch von ihrem Besucher erwartet: Die ausgestellten Aufkleber sind nicht nur gezielt ausgewählt, sondern auch aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen. Der Besucher wird damit auf die Bedeutung des Transfers der Aufkleber von der Straße in den Ausstellungsraum aufmerksam gemacht. Erst durch diese Dekontextualisierung ergeben sich die Aufkleber als neue Objekte des Wissens, die schließlich den Kern der Ausstellung darstellen.
Diesen Umstand muss der Zuschauer zu schätzen wissen, wenn er vor einer der einheitlich dunklen Flächen mit den zahlreichen kleinen Einzelstücken steht. Denn zumindest die Wände und damit die zentralen Informationsträger der Ausstellung sind sehr klassisch gestaltet. Der Einstieg in das Thema wird der Besucherschaft damit zunächst nur sehr trocken und in Form von museumstypischen großflächig gedruckten Einführungstexten geboten. Ein spannenderer Zugang, den das Material durchaus hergibt, eröffnet sich erst abseits der Ausstellungswände an einigen interaktiven Stationen.
Aber vielleicht ist auch die räumliche und gestalterische Schlichtheit eine weitere bewusste Entscheidung. Der öffentliche Raum, in dem die Aufkleber auftreten, das Milieu und Publikum, dem sie normalerweise zugänglich sind, scheinen gänzlich in den Hintergrund zu rücken. Stattdessen stellt sich umgekehrt die Frage, wie ausschließlich über Botschaft und Gestaltung der Aufkleber ihre Rezeption gesteuert werden soll. An wen und gegen wen richtet sich der jeweilige Zettel, wie soll Aufmerksamkeit erreicht werden und wie vermittelt der Zettel seinen Inhalt auf kleinster Fläche?
Auf diese Fragen gibt die Ausstellung keine eindeutigen und finalen Antworten. In einer Videoinstallation versuchen sich Experten, Studenten und Passanten an der Deutung von einzelnen Aufklebern – mit unterschiedlichen Ergebnissen. Und analog dazu lädt die Ausstellung auch ihre Besucher ein, die zahlreichen Aufkleber selbst zu entdecken und zu erschließen. Die meisten ausgestellten Objekte sind lediglich mit einer Einordnung in Ort und Zeit ihres Aufkommens versehen und sollen ansonsten für sich sprechen.
Nur einige wenige Stücke sind ausführlich kommentiert. Das gilt hauptsächlich für den Bereich über Antisemitismus im frühen Nationalsozialismus. Gerade hier können viele Aufkleber nicht allein für sich stehen. Erst wenn beispielsweise die zu ihrer Zeit allgegenwärtigen Aufkleber zur Volksverhetzung mit der erschreckend anschaulich bebilderten Geschichte vom Boykott und der Zerstörung einer Berliner Eisdiele in Verbindung gebracht werden, wird die destruktive Rolle deutlich, die kleinste und vermeintlich unauffällige Zettel als Vorboten und Auslöser von Gewalt spielen können.
Eine Distanzierung von jeglichen Formen der Anfeindung und Ausgrenzung passiert nicht nur auf inhaltlicher Ebene, sondern findet sich bemerkenswert konsequent auch in der Konzeption der Ausstellung wieder. In Sachen Inklusion werden im wahrsten Sinne neue Wege gegangen: Durch den Ausstellungsraum zieht sich ein taktiles Leitsystem auf dem Boden, das sehbehinderte Besucher durch die einzelnen Bereiche führt. Jeder Bereich wird von einer Inklusiven Kommunikations-Station (IKS) eingeführt, die mit Texten in einfachem Deutsch und Englisch, Brailleschrift, Videos mit Gebärdensprache und Objekten und didaktischen Modellen zum Ansehen und Ertasten die behandelten Themen für jeden Besucher optimal erfahrbar machen. Die Stationen werfen grundlegende Fragen auf, die den Hintergrund von Antisemitismus und Rassismus ergründen. An einer Stelle wird gefragt, was es mit dem oftmals in Abgrenzung gegen andere Kulturen propagierten Abendland auf sich hat; an einer anderen Station wird ganz allgemein die Funktionsweise eines Weltbildes veranschaulicht. Mithilfe eines Experiments wird der Besucher hier auf die Subjektivität und Begrenztheit seiner eigenen Sicht auf die Welt aufmerksam gemacht und ermutigt, diese in Frage zu stellen. Auf mehreren übereinandergelegten farbigen Weltkarten kann erst durch das Aufsetzen einer Brille in der jeweiligen Farbe eine bestimmte Perspektive klar erkannt werden, beispielsweise ein eurozentrischer Blick auf die Welt. Setzt man die Brille wieder ab, erscheinen die vielen verschiedenen Sichten wieder gleichberechtigt in einem Bild. Durch solche Herausforderungen zur Reflexion wird der Besucher letztendlich in die Lage versetzt, die zahlreichen präsentierten Aufkleber als Mittel der Ausgrenzung zu begreifen und kritisch einzuordnen. Erst dadurch kann es sich die Ausstellung erlauben, viele der einzelnen Stücke unkommentiert zu lassen.
Im Ausstellungsbereich „Weltbilder im Wohnzimmer“ wird dieses Bewusstsein sogleich für die frühe Geschichte des Sammelstickers bedeutend. Inmitten des Raums kann der Besucher in einer Sitzecke in aktuelle Stickeralben hineinblättern, die sich überwiegend an Kinder richten. An den Wänden wird die kindliche Begeisterung für das harmlose Sammeln in der Gegenwart mit der Faszination am Sammeln im 19. Jahrhundert parallelisiert. Die ausgestellten Sammelbilder dieser Zeit – in diesem Falle nur noch als digitale Reproduktionen erhalten – zeigen jedoch offensichtlich kolonialrassistisch geprägte Motive, die von großen Kaufhäusern und damit den Profiteuren des Kolonialsystems als kostenlose Beigabe zum Einkauf verteilt wurden. Hier wird deutlich, wie durch den unreflektierten Umgang mit solchen Darstellungen ein diskriminierendes Weltbild an eine breite Masse herangetragen und normalisiert, ja vielleicht sogar erst erschaffen werden kann.
Obwohl Aufkleber mit Botschaften der pauschalen Anfeindung in allerlei Richtungen die auffälligsten Stücke darstellen, verweist die Ausstellung doch immer wieder auf das breite Spektrum zwischen harmloser Unterhaltung und Werbung auf der einen und bösartiger Hetze auf der anderen Seite, in dem sich das Medium Aufkleber bewegt. Dessen positives Potential kann der Besucher zum Abschluss der Ausstellung auch selbst erproben: In einer Werkstatt hat er die Möglichkeit, selbst Aufkleber zu gestalten und an einer eigens dafür vorgesehenen Wand anzukleben. Dabei sind der inhaltlichen und gestalterischen Freiheit natürlich keine Grenzen gesetzt. Und doch wird beim Blick auf die schon reichlich beklebte Wand eines klar: Die Beschäftigung mit den dunklen Seiten des Klebezettels weckt in den meisten Besuchern vor allem den Drang zur offenen Bekundung von Freundlichkeit, Verständnis und Toleranz. Zumindest in diesem Bereich sind es also tatsächlich die positiven Inhalte, die hängen bleiben.
Angezettelt – Antisemitische und rassistische Aufkleber von 1880 bis heute
20. April bis 31. Juli 2016
Deutsches Historisches Museum
Unter den Linden 2
10117 Berlin
www.dhm.de