„... zur göttlichen Frühstückspause”

Eine Motivwanderung von der Antike bis heute

Ein Frühstück im Grünen mit Raffael und Manet, Picasso und Tacita Dean: Angeregt von einem Aufsatz Aby Warburgs verfolgt die Ausstellung des Forschungsprojekts Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance die Wanderung eines antiken Sarkophagmotivs durch Kunst und Kunstwissenschaft, durch Rezeption und Adaption.
Das Motiv einer Figurengruppe auf einem antiken Sarkophag wird in der Renaissance von Marcantonio Raimondi in einem Kupferstich aufgegriffen. Edouard Manet rezipiert etwa 350 Jahre später eben diesen und malt sein berühmtes Gemälde Frühstück im Grünen, welches wiederum bis heute von zahlreichen Künstlern aufgegriffen und abgewandelt wird. Anhand von fünf thematischen Sektionen soll dieses konkrete Beispiel an Kernfragen der Antikenrezeption und ihrer Erforschung heranführen.

Geburtsstunde eines Motivs

Zu Beginn des 2. Jahrhunderts n. Chr. änderten sich die römischen Grabsitten, die Körperbestattung ersetzte die traditionelle Leichenverbrennung. Statt Urnen wurden nun Erdgräber und steinerne, mit Reliefs geschmückte Sarkophage üblich. Das Spektrum der Bildmotive beinhaltete neben typischen Schmuckelementen, Darstellungen von Schlachten und Porträts der Toten insbesondere mythologische Szenen und Figuren, die sinnbildhaft für die Tugenden der Verstorbenen standen. Ein seltenes Reliefmotiv ist das nur in gut einem Dutzend Beispielen überlieferte Urteil des Paris. In Rom ist es an der Gartenfront der Villa Medici und an der Fassade der Villa Doria Pamphilj zu sehen.

Das Urteil des Paris

Das Parisurteil ist eine Geschichte aus der griechischen Mythologie. In ihr entscheidet sich der trojanische Königssohn Paris, von Hera, Athena und Aphrodite zur Wahl der schönsten Göttin aufgefordert, für Aphrodite und überreicht ihr einen goldenen Apfel. Die Liebesgöttin hat ihm hierfür die schönste Frau der Welt versprochen. Nachdem er mit Aphrodites Hilfe die schöne Helena, Frau des Königs Menelaos von Sparta, entführt hat, zieht ein gewaltiges griechisches Heer gegen Troja; der anschließende Krieg dauert zehn Jahre und endet mit der Zerstörung der Stadt.

Der Sarkophag der Villa Medici

Von dem Marmor-Sarkophag, der auf Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. datiert wird, ist lediglich eine Seite erhalten; das Relief war schon im 16. Jahrhundert stark beschädigt. Es zeigt zwei, von einem Krieger mit erhobenem Schild getrennte Szenen. Links sitzt Paris, mit einem weiten Mantel bekleidet, bei seiner Herde auf einem Felsen. Neben ihm lagern zwei halb verhüllte Nymphen. Rechts neben Paris steht Hermes, der dem jungen Hirten seine Aufgabe als Richter erläutert. Augenscheinlich hat dieser seine Wahl bereits getroffen und übergibt der von ihrem Sohn Eros begleiteten Aphrodite den Apfel. Der Bekränzung Aphrodites durch die Siegesgöttin Nike wohnen die unterlegenen Göttinnen Hera und Athene aus dem Mittelgrund des Bildes bei. Der nackte Krieger im Zentrum lenkt den Blick zur rechten Bildseite, wo Helios in seinem Sonnenwagen dem von Göttern umgebenen Zeus entgegen eilt. Unterhalb des Göttervaters sind Flussgötter und Nymphen zu sehen, die auf dem Relief eine eher untergeordnete Rolle spielen. Ausgerechnet diese, scheinbar nebensächliche Gruppe wird aber bis in unsere Zeit nachwirken.

Sarkophag mit dem Urteil des Paris, um 180–200 n. Chr., Marmor, 90 x 230 cm, Rom, Villa Medici © Alinari Archives-Alinari Archive, Florence
Der Sarkophag der Villa Doria Pamphilj

Das Sarkophagrelief an der Fassade der Villa Doria Pamphilj entstand etwas früher als das Relief an der Villa Medici. Seine ebenfalls erhaltenen Stirnseiten werden in Liverpool aufbewahrt. Das Relief zeigt ebenfalls das Parisurteil, aber mit wesentlich weniger Figuren und in linearer Anordnung. Im Zentrum ist die Urteilsszene dargestellt. Am linken Bildrand ist auch hier eine Gruppe von Nymphen zu sehen; diejenige, die dem Betrachter ihren Rücken zuwendet, wird als Motiv in zahlreichen späteren Kunstwerken aufgegriffen. Am rechten Rand sitzt der von zwei Nymphen flankierte Zeus, unterhalb von ihm ist die Erdgöttin Gaia mit ihrem Füllhorn zu erkennen.

Sarkophag mit dem Urteil des Paris, um 150-175 n. Chr., Marmor, 60 x 210 cm, Rom, Villa Doria Pamphilj

Dokumentation und Variation

Römische Sarkophage fanden in nachantiker Zeit in unterschiedlichen christlichen Kontexten Wiederverwendung. Berühmt sind die Exemplare im Camposanto in Pisa, aber auch in den großen Kirchen Roms waren Sarkophage, oft mit mythologischen Sujets geschmückt, zu sehen. In großer Zahl überliefert, oft gut erhalten und einfach zugänglich lieferten die figurenreichen Reliefs den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Künstlern einen unschätzbaren Fundus an Formen und Themen. Die zunehmende Beschäftigung mit dem antiken Erbe spiegelt sich nicht nur in zahlreichen Zeichnungen des 15. und 16. Jahrhunderts wider, sondern auch in der Einrichtung privater Antikensammlungen. Adelige und Kleriker nahmen sich den Statuenhof von Papst Julius II. im Vatikan (1503–13) für ihre Kollektionen zum Vorbild; auch antike Sarkophage bzw. Sarkophagreliefs fanden in Palästen, Villen und Gärten Aufstellung. Zur berühmten Sammlung des Kardinals Andrea della Valle gehörte ein Sarkophag mit dem Parisurteil, der seit dem 16. Jahrhundert die Gartenfassade der Villa Medici in Rom ziert. Für dieses Bildthema gab es seinerzeit auf einem Sarkophag – so weit bekannt ist – in Rom nur ein weiteres Beispiel. Dieses ist zuerst zwischen 1505 und 1509 in der Kirche Santa Maria in Monterone dokumentiert; später fand das Relief Eingang in eine private Sammlung (Girolamo Frangipani) und wurde schließlich im 17. Jahrhundert an der Fassade der Villa Doria Pamphilj angebracht, wo es noch heute zu sehen ist. Zahlreiche Stiche und Zeichnungen lassen die Beliebtheit beider Werke als Studienobjekt erahnen, verdeutlichen aber auch, dass die Beschäftigung mit den antiken Refliefs sehr individuelle Resultate erbrachte.

Die folgenden vier Zeichnungen zeigen den Sarkophag aus der Della Valle-Sammlung. Der unbekannte Künstler aus der römischen Werkstatt Jacopo Ripandas teilt das Reliefs in zwei Register, bleibt dabei äußerst nah an der Vorlage, rekonstruiert jedoch fehlende Partien. Er arbeitet den Reliefcharakter intensiv heraus, spielt mit Überschneidungen des Reliefgrunds und verdeutlicht den vom Papierformat begrenzten Fortlauf der Figurenanordnung, indem er die Bereiche um die Schnittstelle zweimal darstellt.

Jacopo Ripanda (Werkstatt), um 1512/13–17, Feder, braune Tinte, laviert auf Papier, 235 x 333 mm, Oxford, Ashmolean Museum, Ripanda Skizzenbuch, fol. 53 r © Ashmolean Museum, University of Oxford

Perino del Vaga erfasst das gesamte Relief in einer sehr kleinformatigen Zeichnung. Seine Figuren zeichnen sich vor allem durch den starken Kontur aus, während die Plastizität in der Binnenzeichnung durch Lavierungen unterstützt wird. Auch er verbindet die Treue zur Vorlage und ihrer gedrängten Figurenanordnung mit der Ergänzung von Fehlstellen.

Perino del Vaga, 1. Hälfte 16. Jh., Feder, laviert auf Papier, 102 x 291 mm, Besançon, Musée des Beaux Arts © Besançon, Musée des beaux-arts et d’archéologie - Cliché Pierre Guenat

Die Darstellung aus dem Codex Coburgensis entstand Mitte des 16. Jahrhunderts. Der anonyme Zeichner betont ausdrücklich seine dokumentarische Absicht, indem er die Fehlstellen als solche wiedergibt und keinerlei Ergänzungen vornimmt.

Anonymus Coburgensis, um 1550, Feder, braune Tinte, grau laviert mit Pinsel auf Papier, 440 x 290 mm, Coburg, Kunstsammlungen der Veste Coburg, Kupferstichkabinett, Codex Coburgensis, Nr. 58

Das Blatt aus dem Codex Pighianus weist dieselben Charakteristika auf, wurde aber nicht nach dem Objekt angefertigt, sondern ist eine sorgfältige Kopie der Zeichnung aus dem Codex Coburgensis.

Anonymus Pighianus, um 1550-55, Feder, braune Tinte, laviert auf Papier, 440 x 288 mm, Berlin, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Codex Pighianus, fol. 265 v

Drei weitere Zeichnungen rekurrieren auf den Paris-Sarkophag aus der Villa Doria Pamphilj.
Der Zeichner des Codex Escurialensis (1506–08) ergänzt die zum Teil beschädigten Figuren. Feine Linien bestimmen die Konturen der mit lebendigen Schraffuren modellierten Figuren. Durch den Unterschied zwischen den gleichmäßigen Schraffen des Hintergrunds und der plastischen Ausarbeitung der Figuren wird der Reliefcharakter betont. Aufgrund der frühen Datierung und der Ortsangabe asancta maria amontorone i roma stellt die Zeichnung ein besonders wichtiges Dokument dar.

Anonymus Escurialensis, 1506-08, Feder, braune Tinte, laviert auf Papier, 330 x 230 mm, Madrid, Real Monasterio El Escorial, Codex Escurialensis, fol. 8 v

Die Zeichnung aus dem sogenannten Bambaia-Skizzenbuch ordnet die Figuren in zwei Registern an und konzentriert sich in Abkehr vom Vorbild auf frei variierte Einzelfiguren in veränderter Interaktion. So platziert der Zeichner beispielsweise in der Mitte oben die in Rückenansicht gezeigte Nymphe mit einem männlichen Akt, der in der Vorlage fehlt.

Agostino Busti / Bambaia, um 1515, Feder, braune Tinte, laviert auf Papier, 208 x 147 mm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Bambaia-Skizzenbuch, fol. 13 © bpk | Kupferstichkabinett, SMB | Volker-H. Schneider

In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts liefert Giovannantonio Dosio eine weitere Nachzeichnung des Reliefs. Die rahmenden Stege an dessen horizontalen Kanten rufen den Sarkophag als ursprüngliche Vorlage in Erinnerung. Der Duktus der Federzeichnung ist rasch und sicher, Schatten sind durch dunkle Lavierungen betont.

Giovannantonio Dosio (Umkreis?), 2. Hälfte des 16. Jh., Feder, braune Tinte, laviert auf Papier, 130 x 410 mm, Berlin, Staatliche Museen zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Codex Berolinensis, fol. 8 r © bpk | Kupferstichkabinett, SMB | Volker-H. Schneider

Marcantonio Raimondi fertigte einen Kupferstich nach einer heute nicht mehr erhaltenen Zeichnung Raffaels an, welche die Motive beider Sarkophagreliefs zu einer neuen Komposition verband. Die drei links im Bild sitzenden Nymphen sind an die Gruppe des Doria Pamphilj-Sarkophags angelehnt; fast alle übrigen Figuren finden sich auf dem Relief an der Villa Medici. Raffaels geniale Invention bestand in der Einführung des weiblichen Rückenakts in der Mittelachse der Komposition. Die dreifigurige Gruppe im Vordergrund rechts, gewinnt durch die aus dem Bild zum Betrachter schauende Flussgöttin Nympha besondere Bedeutung. Die detailreiche, sich tief in den Hintergrund ziehende Landschaft erzeugt eine starke malerische Wirkung und lässt das Medium des Reliefs vergessen.

Marcantonio Raimondi (nach Raffael), Das Urteil des Paris, um 1517, Kupferstich, 298 x 442 mm, New York, Metropolitan Museum Image © The Metropolitan Museum of Art

Das große Interesse anderer Zeichner an der Gruppe der drei Flussgottheiten, das auch mit der Bedeutung der monumentalen, auf dem Kapitol aufgestellten Liegefiguren des Nil und des Tigris zusammenhängt, belegt beispielhaft eine weitere Arbeit. Die Dreier-Gruppe ist auf der Zeichnung aus dem Umkreis Girolamo da Carpis aus der Gesamtkomposition herausgelöst und in der Blattmitte positioniert; die Gottheiten treten dort als Zeugen des darüber gezeigten Geschehens auf. Die lockere Verteilung der Figuren und der Verzicht auf Reliefränder zeigen, dass für den Zeichner die ursprüngliche Gattung kaum noch eine Rolle spielte.
Die Gruppe der Flussgötter entwickelte vor allem dank Edouard Manets Frühstück im Grünen – einer Adaption nach Raimondis Stich – eine intensive Nachwirkung.

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Girolamo da Carpi (Umkreis), ca. 1520-1556, Feder, braune Tinte auf Papier, 192 x 266 mm, London, British Museum, Girolamo da Carpi Skizzenbuch C © The Trustees of the British Museum

Neuprägung der alten Form

Edouard Manets Gemälde Frühstück im Grünen (Dejeuner sur l'herbe, 1863) zeigt eine Figurengruppe, die sich zwischen den Bäumen einer Waldeslichtung auf einer Wiese zum Picknick niedergelassen hat. Zwei Männer in Gehrock und Hut unterhalten sich angeregt, während eine unbekleidete Frau ihren Blick dem Betrachter zuwendet. Ihre Kleidung hat sie links vor sich abgelegt: ein Strohhut mit schwarzem Band und blauer Schleife und ein hellblaues, gepunktetes Kleid. Wie ein Stillleben präsentiert sich der Korb mit verschiedenen Früchten auf ihrem Kleid. Eine zweite Frau hat sich von der Gruppe entfernt; das Gewand hoch gerafft, steht sie vornüber gebeugt bis zu den Knien im einem kleinen See.
Manet wollte sein Frühstück im Grünen noch im Entstehungsjahr 1863 bei dem alljährlich in Paris stattfindenden Salon ausstellen, wurde aber von der konservativen Jury abgelehnt. Aber auch im Salon des Refusés, der Ausstellung der zurückgewiesenen Werke, sorgte es für einen Skandal: Die unbekleidete Frau ließ sich nicht als allegorische oder mythologische Gestalt verstehen – an einer solchen Nacktheit stieß sich damals niemand –, sondern war eine Frau der Gegenwart, die darüber hinaus zwei nach der zeitgenössischen Mode angezogenen Männern gegenübersaß. Von wenigen positiven Reaktionen abgesehen, wurde das Gemälde nicht allein für diesen Tabubruch heftig kritisiert. So schrieb beispielsweise der Kunstkritiker Théophile Thoré in der Zeitung L'indépendance belge im Juni 1863:
„Die nackte Frau ist nicht von schöner Form, leider, und man kann sich nichts hässlicheres vorstellen als den Mann neben ihr, der nicht einmal auf den Gedanken kommt, in der freien Natur seinen schrecklichen Hut abzuziehen.“
Mit der Anordnung der drei Figuren im Vordergrund bezog sich Manet auf den Kupferstich Marcantonio Raimondis, den dieser nach Zeichnungen Raffaels angefertigt hatte. Sowohl für die Kunst Raffaels als auch für die Raimondis galt der Stich seit jeher als beispielhaft und wurde deshalb in den Akademien und Künstlerateliers des 19. Jahrhunderts zu Studienzwecken genutzt. Das Nachahmen großer Meister diente auch als Inspiration auf dem Weg zur eigenen Bildfindung. Obwohl Manet nie eine Kunstakademie besuchte, ist davon auszugehen, dass er den Raimondi-Stich kannte.
Vorbild für Manets Gemälde war nicht zuletzt Giorgiones Ländliches Konzert. Zwar hat Manet die Haltung seiner Figuren Raimondis Werk nachempfunden, gleichzeitig griff er aber auf die Idee Giorgiones zurück, unbekleidete Frauen mit bekleideten Männern zu kombinieren. Das Ländliche Konzert, damals noch Tizian zugeschrieben, hing bereits zu Manets Zeit im Louvre, er selbst besaß eine durch den Künstler Henri Fantin-Latour angefertigte Kopie des Kunstwerks.
Ob Manet neben den Vorlagen aus der Renaissance auch die antiken Sarkophage gekannt hat, ist nicht zu klären. Um die Beziehung zwischen Stich und Villa Medici-Sarkophag konnte er durchaus gewusst haben, hatte doch bereits Joachim von Sandrart 1675 im 2. Buch seiner Teutschen Akademie darauf hingewiesen. In den Jahren 1853 und 1856 reiste Manet nach Italien, eine Station der Reise war Rom. Es gibt allerdings keine Dokumente oder gar Skizzen von Manets Hand, die ein Studium der antiken Reliefs bestätigen.

Edouard Manet, Frühstück im Grünen, 1863, Öl auf Leinwand, 208 x 264 cm, Paris, Musée d'Orsay © bpk | RMN - Grand Palais | Hervé Lewandowski

Unsterblichkeit eines Motivs

„Wenn ich das Frühstück im Freien von Manet sehe, sage ich mir: Schmerzen für später”, meinte Picasso Anfang der 1930er Jahre. Als er sich schließlich im Alter von 73 Jahren dieser Aufgabe stellte, entstanden in einem Zeitraum von zweieinhalb Jahren 27 Gemälde, etwa 150 Graphiken sowie Pappmodelle und Betonskulpturen. Unumgänglich schien Picasso die Beschäftigung mit diesem Werk – und bis heute reizt es Künstlerinnen und Künstler der ganzen Welt zur Auseinandersetzung. Manets Gemälde und vor allem sein zentrales Motiv wird – quer durch alle Gattungen – immer wieder aufgegriffen, verfremdet, in individuelle Stile übersetzt und in neue Kontexte eingebettet. Die Bekanntheit des Werks bzw. die Vertrautheit mit dem Motiv führen dabei zu einer Art Déjà-vu-Erlebnis und erhöhen die Aufmerksamkeit der BetrachterInnen.

Pablo Picasso, Déjeuner sur l'herbe, 1962, Farbkreide und Bleistift auf Papier, 42,5 x 52 cm, Paris, Musée Picasso © bpk | RMN - Grand Palais

Im Werk des französischen Pop-Art Künstlers Alain Jacquet wird die Figurengruppe in einem mondänen Ambiente um einen Pool angeordnet. Die stark vergrößerten Rasterpunkte konstituieren das Bild und verschleiern es gleichermaßen – eine Wirkung, die der Künstler mithilfe des mechanischen Reproduktionsverfahrens des mehrfarbigen Siebdrucks erreicht.

Alain Jacquet, Déjeuner sur l'herbe, 1964, Siebdruck, Acryl auf Leinwand, 172,5 x 196 cm, Paris, Centre Pompidou © bpk | CNAC-MNAM | Jacques Faujour

In einer einstündigen Performance hielt die Pariser Künstlergruppe UNTEL 1975 ein Picknick vor dem Grand-Palais des Champs-Elysées ab. Die Gruppe thematisierte den Alltag in der städtischen Gesellschaft und die Kommerzialisierung in ihren Aktionen. Sie übertrugen das Motiv in die eigene Zeit: mit Wein aus Plastikflaschen, Kofferradio und einer Stange Lucky Strike.

UNTEL, Déjeuner sur l’herbe, 8. April 1975, Dauer: 1 Stunde, Fotographie der Performance vor dem Salon im Grand-Palais des Champs-Elysées, Paris">

Der amerikanische Künstler John DeAndrea schuf 1982 eine seiner hyperrealistischen Skulpturen-Gruppen in Anlehnung an das Frühstück im Grünen. Die Darstellung von Nacktheit zieht sich durch das gesamte Werk des Künstlers, der immer wieder auf antike und nachantike Vorbilder zurückgreift.

John DeAndrea, Manet: Déjeuner sur l’herbe, 1982, Polyvinyl, Öl, 94,6 x 269,2 x 213,7 cm, Louisville, The Speed Art Museum

In einem ihrer frühesten Werke von 1992 bedient sich Tacita Dean in einer Einstellung des Films The Story of Beard der prominenten Vorlage. Die Bekleidung und Details bleiben nah am Gemälde Manets, die weibliche Aktfigur allerdings trägt hier den Vollbart, der in Manets Bild den Mann neben ihr schmückt. Der Film erzählt die Geschichte eines Ladens für Bärte in Canterbury, auch falsche Bärte für Frauen sind im Angebot.

Tacita Dean, The Story of Beard, 1992, Film-Still, New York, Marian Goodmann Gallery

Der chinesische Künstler Yue Minjun adaptiert das Figurenmotiv 1995 für eines seiner Werke mit den für ihn charakteristischen, immer gleich aussehenden lachenden Männern. Die Bilder verstören umso mehr, da sie auf dem Betrachter vertraute Vorlagen zurückgreifen.

Yue Minjuin, Le Déjeuner sur l’herbe, 1995, Öl auf Leinwand, 179,7 x 250,2 cm, Ort unbekannt

Vom Salon in den Atlas

1864, ein Jahr nach der Präsentation von Manets Frühstück im Grünen, verweist der Pariser Kunstkritiker Ernest Chesneau in seinem Buch L'art et les artistes modernes en France et en Angleterre auf Raimondis Stich als Vorbild für Manets Bild. Chesneau, der kein gutes Haar an Manets Kunst lässt, urteilt in einer Randbemerkung, es sei „kaum zu glauben, dass Monsieur Manet eine der Kompositionen Raffaels übernommen haben soll. Dies ist allerdings, leider! nur allzu wahr. Man vergleiche sein Frühstück im Grünen mit einer gewissen Gruppe des Parisurteils.“

Zwar war die Übernahme des Motivs durch Manet rasch bemerkt worden, doch dieses Wissen ging in der Folgezeit offenbar wieder verloren. Erst 1908 entdeckt der Kunsthistoriker Gustav Pauli in seinem Aufsatz Raffael und Manet wieder, was die beiden ungleichen Künstler, „einander so fern, wie Gestirne“, verband. Er bezog hierfür erstmals die archäologischen Forschungen Otto Jahns und Anton Springers zum Zusammenhang zwischen dem Raimondi-Stich und den beiden antiken Sarkophagreliefs ein. War das Verdikt über Manet früher noch abschätzig gewesen, so beschließt Pauli seinen Aufsatz mit einer erstaunlichen Aussage zum kunsthistorischen Stellenwert des Gemäldes: „Das Kunstwerk, das Manet in seinem Déjeuner geschaffen hat, ist mehr wert als Raffaels Zeichnung und als die antiken Reliefs, die ihm als Vorlage gedient haben.“ Manet war von einem skandalösen Verächter der Kunstgeschichte in den Rang eines Klassikers aufgestiegen.

Der Hamburger Privatgelehrte Aby Warburg, Begründer der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg und wichtiger Erneuerer der kunsthistorischen Methodik, wandte sich Ende der 1920er Jahre dem Thema zu. Sein erst nach seinem Tode publiziertes Manuskript Manets Déjeuner sur l'herbe von 1929 basiert auf den Erkenntnissen seines Freundes und Kollegen Gustav Pauli; es stellt aus heutiger Sicht die wichtigste und ausführlichste Beschäftigung mit der Thematik dar.
Warburgs unermüdlich vorangetriebene Studien zur Wanderung des Reliefmotivs sollten in seinen Bilderatlas Mnemosyne einfließen, einer „Bilderreihe zur Untersuchung der Funktion vorgeprägter antiker Ausdruckswerte bei der Darstellung bewegten Lebens in der Kunst der europäischen Renaissance.“

Aby Warburg, Der Bilderatlas Mnemosyne, Tafel 55, 1928, London, Warburg Institute © The Warburg Institute
Entführung zur göttlichen Frühstückspause

Manets Raffael-Rezeption bildete das Zentrum von Warburgs damaliger Forschungsarbeit zum Nachleben der Antike und zu seinem kulturtheoretischen Konzept der „energetischen Inversion“: Mit Blick auf zwei lagernde Figuren aus der Gruppe von Flussgöttern und Nymphen des Villa Medici-Sarkophags konstatierte er, dass „deren Versuch der Aufrichtung des Oberkörpers zugleich schauernde Ergriffenheit vor der himmlischen Erscheinung bedeutet.“ Während die kauernde Nymphe auf dem Sarkophag von der Auffahrt der Venus über ihr sichtlich bewegt sei, und ekstatisch ihren Kopf emporrichte, so wende sie sich dagegen auf dem Stich Marcantonio Raimondis der beschauenden Außenwelt zu.

„In anscheinend ganz unbedeutenden Abweichungen im Spiel der Gebärden und des Gesichtes vollzieht sich nun eine energetische Umverseelung des dargestellen Menschentums. Aus der kultlich zweckgebundenen Geste untergeordneter blitzfürchtiger Naturdämonen auf dem antiken Relief vollzieht sich über den italienischen Stich die Prägung freien Menschentums, das sich im Lichte selbstsicher empfindet.“

Auf Manets Frühstück im Grünen sehe, einem verstärkten Zuschauerbewusstsein entsprechend, schließlich auch der Mann mit festem, aufgeklärtem Blick dem Bildbetrachter entgegen. Nach Warburgs Verständnis war die in Raimondis Stich gegenwärtige Behauptung des aufgeklärten Menschen ein Gut, das gegen innere Widerstände in einem sogenannten „Denkraum der Besonnenheit“ immer wieder aufs Neue erkämpft werden musste. Als „missing link zwischen dem olympischen Apfelessen und dem französischen Laienfrühstück“ – zwischen antiker Götterfurcht und moderner Aufgeklärtheit – bezeichnete Warburg daher das Parisurteil von Nicolaes Berchem (im Zentrum der Mnemosyne-Tafel), das um 1650 nach Raimondis Stich entstanden war. Den lagernden Flussgöttern und Nymphen werden hier anstelle der Götter im Himmel zwei Kühe und eine Reisegruppe als irdisches Schauspiel im Landschaftshintergrund dargeboten.

„Das Kleeblatt der in sich selbst beschlossenen Humanität hat zu optieren: soll der Phobos vor dem kosmischen Schicksalsdämonen weiter lasten, oder soll durch malerische Schau ein neues – seit Urzeiten erstrebtes – Einheitsgefühl einsetzen, [...] so entführt das Farbenspiel im weißen Licht die ‚accedia‘ [Trägheit des Herzens] zur göttlichen Frühstückspause.“

Literatur, Links, Team

Literatur (Auswahl)

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Otto Jahn: Über einige Darstellungen des Parisurteils, in: Berichte über die Verhandlungen der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, Philologisch-Historische Klasse, Bd. 1 (1849), S. 55–69. (PDF Quelle: UB der HU zu Berlin: ZWB Klass. Archäologie, Sign. Z DEU 304)


Anton Springer: Raffael und Michelangelo, in: Kunst und Künstler Italiens. Bis gegen die Mitte des Achtzehnten Jahrhunderts, hg. von Robert Dohme, Leipzig 1878, S. 310–313. (PDF Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin, Sign. Nt 6281)


Henry Thode: Die Antiken in den Stichen Marcanton’s, Agostino Veneziano’s und Marco Dente’s, Leipzig 1881, S. 24–25. (PDF Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin, Sign. Nw 5310a)


Emanuele Loewy: Di alcuni composizioni di Raffaello: ispirate a monumenti antichi, in: Archivio storico dell’arte, 2. Serie, Bd. 2 (1896), S. 241–251.


Gustav Pauli: Raffael und Manet, in: Monatshefte für Kunstwissenschaft, Bd. 1 (1908), S. 53–55. (PDF Quelle: Staatsbibliothek zu Berlin, Sign. Nr 386-1)


Aby Warburg: Manet [Manuskriptfassung von 1929], in: Aby Warburg. Bilderreihen und Ausstellungen, hg. von Uwe Fleckner, Isabella Woldt, Berlin 2012, S. 372–375. (PDF Quelle: UB der HU zu Berlin: Sign. LH 64840 W253-2,2,2)


Aby Warburg: Manet’s Déjeuner sur L’Herbe. Die vorprägende Funktion heidnischer Elementargottheiten für die Entwicklung modernen Naturgefühls [postume Reinschrift von 1937], in: Aby Warburg. Werke in einem Band, hg. von Martin Treml, Sigrid Weigel, Perdita Ladwig, Berlin 2010, S. 647–659. (PDF Quelle: UB der HU zu Berlin: Sign. LH 63635 W488)

Census Movie
Der Census - Eine Einführung (Film, 3:58 min)

Erica Tietze-Conrat: A Sheet of Raphael Drawings for the Judgment of Paris, in: The Art Bulletin, Bd. 35 (1953), S. 300–302.

Matthias Winner: Einleitung, in: Zeichner sehen die Antike. Europäische Handzeichnungen 1450–1800, Ausstellungskatalog Berlin-Dahlem, hg. von Matthias Winner, Berlin 1967, o. S.

Wayne Andersen: Manet and the Judgment of Paris, in: Art News, Nr. 72, 1973, S. 63–69.

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Alan Krell: Manet’s ‘Déjeuner sur l’herbe’ in the Salon des Refusés: A Re-appraisal, in: The Art Bulletin, Bd. 65 (1983), S. 316–330.

Edit Pogány-Balázs: The influence of Rome's Antique Monumental Sculptures on the great Masters of the Renaissance, Budapest 1984, S. 7–17.

Phyllis Pray Bober, Ruth Rubinstein: Renaissance Artists & Antique Sculpture. A Handbook of Sources, London 1986. S. 149–150, Nr. 119 und 120.

Richard Harprath, Henning Wrede: Der Codex Coburgensis. Das erste systematische Archäologiebuch. Römische Antiken-Nachzeichnungen aus der Mitte des 16. Jahrhunderts, Ausstellungskatalog, Coburg 1986, S. 63, Nr. 64.

Michael Fried: Manet’s Modernism. Or the face of painting in the 1860s, Chicago 1996.

Francis Haskell, Nicholas Penny: Taste and the Antique. The Lure of Classical Sculpture 1500–1900, New Haven 1998, S. 7–15.

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Alina Alexandra Payne, Ann Kuttner, Rebekah Smick: Introduction, in: Antiquity and its Interpreters, hg. von Alina Alexandra Payne, Cambridge 2000, S. 1–5.

Gerd Blum: Edouard Manet’s ‘Le déjeuner sur l’herbe’. Die Erfindung des Modernen aus der Vergangenheit, in: Reingard M. Nischik, Caroline Rosenthal (Hg.): Schwellentexte der Weltliteratur, Konstanz 2002, S. 201–232.

Rolf Læssøe: Édouard Manet’s ‘Le Déjeuner sur l'herbe’ as a Veiled Allegory of Painting, in: Artibus et Historiae, Bd. 26 (2005), S. 155–220.

Paul Zanker: Mit Mythen leben. Die Bilderwelt der römischen Sarkophage, München 2004.

Beatrix Ahrens: Die Déjeuner-Malerei von Edouard Manet, Claude Monet und Pierre-Auguste Renoir. Untersuchungen zur Darstellung von Mahlzeiten in der Zeit des Französischen Impressionismus, Freiburg im Breisgau 2006.

Maria Cristina Paoluzzi: La famiglia della Valle e l’origine della collezione di antichità, in: Collezioni di antichità a Roma tra ‘400 e ‘500, hg. von Anna Cavallaro, Rom 2007, S. 147–186.

Le Dejeuner sur l‘Herbe Variations, Blog-Eintrag auf Heaux Culture [letzter Aufruf am 3.11.2015]



Team

Online-Version der Ausstellung im Atrium des Pergamonpalais der Humboldt-Universität zu Berlin 27.10.–18.12.2014, kuratiert von den studentischen Hilfskräften des Forschungsprojekts Census of Antique Works of Art and Architecture Known in the Renaissance: Wiebke Hölzer, Lilla Mátyók, Julia Modes, Philipp Schneider, Maika Stobbe, Kolja Thurner, mit Hilfe von Andreas Huth, Birte Rubach und Timo Strauch

Programmierung der Webseite: Melyad Topalova

Fotografische Dokumentation der Ausstellung und der Vernissage: Link