Wer in Deutschland heute Sex in der Öffentlichkeit hat, muss mit strafrechtlichen Konsequenzen rechnen. Der §183a des Strafgesetzbuches reguliert die örtliche Gegebenheit, an der sexuelle Handlungen stattfinden dürfen. Er kriminalisiert Personen, die mit Sex in der Öffentlichkeit andere Personen absichtlich oder willentlich verärgern, und droht mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu einem Jahr. Der Paragraph trifft und reguliert vor allem zwei Formen einvernehmlichen Sexes: Sexarbeit und Cruising.
Sex in der Öffentlichkeit wurde jedoch nicht schon immer auf gleiche Art und Weise reguliert und geahndet. Die Regulierung von Sex in der Öffentlichkeit unterliegt vielseitigen Veränderungen und verweist damit auch auf sich wandelnde Vorstellungen von Anstand und Sitte. Sie wirft die Fragen auf: Wie kann Sexualität im öffentlichen Raum artikuliert werden? Wer fühlt sich durch wen und was gestört? Was gilt als öffentliches Ärgernis? Wo soll wer vor sexualisierten oder genderbasierten Übergriffen geschützt werden?
Dass Sexualität im öffentlichen Raum auch mal entlang ganz anderer Fragen und Vorstellungen verhandelt wurde, zeigt ein ausschnittartiger Blick zurück in die Geschichte. Im antiken Athen galt 800 vor Christi Sex als transitiver Akt, als eine Handlung, die nicht auf Gegenseitigkeit beruht. In der Ausgrabungsstätte von Pompeij finden sich Wandmalereien, die Hinweise auf freizügige, sexuelle Akte in Badehäusern oder Bordellen zeigen. Erst mit dem Aufkommen moderner Intimitätsvorstellungen und der bürgerlichen Kleinfamilie entstand die strukturelle Trennung von Öffentlichkeit und Privatheit. Sexualität und Intimität wurden dem privaten, geschlossenen Raum zugeordnet und auf diesen begrenzt.
Diese Trennung spiegelt sich heute im §183a: Bestimmte öffentliche Sexualpraktiken werden unter Verweis auf einen Schutzauftrag reguliert und kriminalisiert. In der Rechtsprechung wird dabei auf einen sogenannten „objektiven Dritten“ verwiesen, der von den Sexualpraktiken gestörten wird. Diese*r „objektive“ oder auch „eingebildete Dritte“ (Barnert 2018) fungiert als Argumentationsfigur, steht außerhalb des Geschehens und bildet eine Brücke zwischen abstraktem Recht und konkretem Leben. Dabei soll diese Argumentationsfigur helfen, einen Maßstab im „Flimmern zwischen Sachverhalt und Norm“ (Kocher 2019: 408) zu finden. Rechtssoziolog*innen wie Eva Kocher (2019) haben gezeigt, dass das dieser Figur zugeschriebene Scham- und Anstandsgefühl auf gegenwärtigen Werten und Vorstellungen von Bürgerlichkeit, Paternalismus und Vernunft beruht. Indem sich über die Figur des „objektiven Dritten“ implizite bürgerlich-moderne Vorstellungen von Intimität und Sexualität, Privatheit und Öffentlichkeit in das Strafrecht einschreiben, wirkt die Regulierung über die bloße Ausgestaltung der Sexualpraktiken hinaus (Berlant & Warner 1989: 553-557); sie befördert die Trennung des privaten, familiären Lebens von der öffentlichen Sphäre der Lohnarbeit, der Politik und des öffentlichen Raums.
Zitiervorschlag: Genealogie von Sex in der Öffentlichkeit, JJ Maurer, lizenziert unter einer CC BY-SA 4.0, Creative Commons Namensnennung – Nicht-kommerziell – Weitergabe unter gleichen Bedingungen 4.0 International Lizenz.
Literatur
Barnert, E. (2008): Der eingebildete Dritte: Eine Aurgumentationsfigur im Zivilrecht. Tübingen: Mohr Siebeck.
Bartz, D. (2002): Die Scham erobert den Ozean der Liebe. Mare, die Zeitschrift der Meere. https://www.mare.de/die-scham-erobert-den-ozean-der-liebe-content-2505. Zuletzt abgerufen: 20.06.2021.
Berlant, L., & Warner, M. (1998): Sex in Public. Critical Inquiry, 24(2), 547-566.
Fagan, B. M. (1998): Clash of cultures. AltaMira Press, Lanham.
Halperin, D. M. (1989): Is There a History of Sexuality? History and Theory, 28(3), 257.
Fradella, H.F. & Sumner, J. M. (2016): Sex, Sexuality, Law, and (In)justice. Routledge.
Roth, N. (2014): Freundschaft und Liebe. Codes der Intimität in der höfischen Epik des Mittelalters. Frankfurt. https://d-nb.info/1149289295/34. Zuletzt abgerufen: 20.06.2021.
Stumpp, B.E. (1998): Prostitution in der römischen Antike. Berlin
Vokery, C. (2010): Gassigehen mit Glücksgefühl. Spiegel Panorama Online. https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/freiluft-sex-in-england-gassigehen-mit-gluecksgefuehl-a-723214.html. Zuletzt abgerufen: 20.06.2021.
Text und Timeline entstanden im Rahmen des MA-Seminars „Kriminalität, Kriminalisierung und Geschlecht“ an der Humboldt-Universität zu Berlin (Sommersemester 2021). Wir danken Sabrina Bahlo, Tülin Fidan, Melina Madoures, Sabrina Mainz, JJ Maurer und Muriel Weinmann für ihre Erlaubnis, die Timeline auf unserem Blog zu veröffentlichen. Die Gruppenarbeit wurde zusammengefasst von Carmen Grimm.