Carl Peters, die Geowissenschaften und der Versuch, den Wert der Kolonie Deutsch-Ost-Afrikas zu kartieren

Von Iris Schröder

Dass das europäische koloniale Projekt eine aufwändige Angelegenheit war, ist inzwischen hinlänglich bekannt. Dass sich auch im Deutschen Kaiserreich eine Reihe von Enthusiasten fanden, die nicht müde wurden, für die koloniale Landnahme zu werben, ebenso. Viele der besagten Enthusiasten argumentierten hierbei prokolonial mit Blick auf das Britische Empire, von dem es – so die einhellige Meinung – zu lernen gelte. Dies geschah durchaus oft im Sinne einer trotz aller kolonialen Konkurrenzen beobachtbaren frühen europäischen Verständigung, die sich sowohl mit der Hoffnung auf die jeweils eigene angestrebte Größe und Bedeutung verband, als auch mit dem gemeinsam geteilten Ziel, vor allem die Afrikaner:innen in ihre Schranken zu weisen – und das nötigenfalls mit Gewalt.1

Carl Peters, seines Zeichens Pfarrerssohn und habilitierter Philosoph, machte in dem Zusammenhang schon zeitig von sich reden. Bereits in den 1880er-Jahren war er einer der bekannteren Zeitgenossen im Kaiserreich, trat er doch wortreich für den Erwerb eines sogenannten „Schutzgebiets“ in Ostafrika ein. Peters war ein Mann der Tat, einer der „men on the spot“. Gern war er seiner Zeit voraus. Nach einem dreijährigen Englandaufenthalt hatte er weite Teile Ostafrikas reisend für sich entdeckt. Die südlich und östlich des Kilimandscharomassivs gelegenen Gebiete hatten es ihm hier ebenso angetan wie die vor der ostafrikanischen Küste gelegene Insel Sansibar. Kurzentschlossen hatte er deshalb vor Ort mit einzelnen lokalen Chiefs Schutzverträge auszuhandeln begonnen und gleich selbst unterzeichnet – Verträge, die im Falle eines militärischen Angriffs die künftige, emphatisch als solche bezeichnete „Schutzherrschaft“ des Deutschen Reiches festschreiben sollten, wobei die Rechte der lokalen Bevölkerung erheblich einzuschränken waren.2

Trotz manch anfänglicher augenscheinlicher Erfolge der neuen Kolonialherren vor Ort, über die in der Metropole berichtet wurde, verlief freilich nicht alles so wie geplant bzw. wie Peters es sich gedacht hatte. Denn vor Ort gab es nach wie vor eine erhebliche Konkurrenz mit den Briten aufgrund ihrer Ansprüche auf die Gebiete weiter im Norden sowie auf Teile des weiter östlich von der Küste entfernt gelegenen Zwischenseengebiets. Die Aushandlung einzelner Grenzverläufe, ja, die erstrebte Teilung der Herrschaftsgebiete unter den europäischen Kolonialmächten erwies sich aber auch aus anderen Gründen als weitaus schwieriger durchzuführen als anfänglich gedacht, da auch die lokalen Herrscher bei der Gebietsverteilung oft aktiv mit verhandelten und die künftigen europäischen Machthaber, die über so gut wie keine genaueren Kenntnisse der politischen Gemengelage und Herrschaftsansprüche vor Ort verfügten, fortlaufend heraus forderten.3 Vor allem Peters‘ Vorstellungen eines großdeutschen Ostafrika sollten sich alsbald als Luftschloss erweisen: Denn das mühsam errungene Einigungsverfahren des deutsch-britischen Helgoland-Sansibar-Vertrags sah ein solches deutsches Großreich, so wie Peters es imaginiert hatte, nicht mehr vor. Wobei es für Peters wohl besonders schmerzlich gewesen sein musste, dass genau jener Vertrag, den er 1887/88 mit dem Sultan von Sansibar ausgehandelt hatte und demzufolge ein gut 900.000 Quadratkilometer großes Gebiet als Deutsches Kolonialgebiet hätte gelten dürfen, mit dem neuen deutsch-britischen Vertrag zu Nichte gemacht wurde.4

Dieser sichtliche Misserfolg tat Peters‘ fortdauernder Popularität keinen Abbruch – im Gegenteil: Seine Ernennung zum Leiter der deutschen Rettungsexpedition für Emin Pascha, der als Gouverneur der ehemals ägyptischen Provinz Äquatoria im Dienst des ägyptischen Khedive gestanden hatte, förderte seine Bekanntheit aufs Neue. Mehr noch: Ausgestattet mit einer Fülle von Hoheitsrechten setze Peters ab 1891 als Reichskommissar für das Kilimandscharogebiet seine Karriere vor Ort fort. Jedoch zeigte er sich dabei erneut als derart eitel und gewaltbereit in der Durchsetzung seiner – auch privat motivierten – Interessen, dass er sein Amt zur Disposition stellen und sich im Reich einem Disziplinarverfahren stellen musste, nachdem die Nachricht von seiner ungeheuren Brutalität mit der Zeit Berlin erreicht hatte.5 Doch trotz der nachfolgenden Verurteilung ließ Peters nicht locker und versuchte unermüdlich, weiter auf sich sowie seine Ideen und Pläne aufmerksam zu machen. Das koloniale Projekt trieb er – stets im Namen des Deutschen Reiches – entsprechend energisch voran und so widmete er sich in eigens für diesen Zweck gegründeten Gesellschaften alsbald dem Handel mit Bodenschätzen weit über Ostafrika hinaus. Bei all diesen Aktivitäten blieb Peters eng mit der sich zusehends radikalisierenden Rechten im Kaiserreich verbunden. Überaus entschlossen wirkte er so auch im Alldeutschen Verband, der ein weitaus expansionistischeres Kolonialprogramm vertrat als es die Reichsregierung vorsah.

Überdies profilierte sich Peters als Autor einschlägiger Schriften, in denen er die Kolonisation Ostafrikas unter deutscher Ägide wortreich darlegte. Im Jahr 1895 erschien so ein gut 450 Seiten umfassendes Werk, das, gut bebildert, sein Publikum für die neu gegründete Kolonie Deutsch-Ostafrika und hier vor allem für deren systematische wirtschaftliche Inbesitznahme zu gewinnen suchte.6 Geschrieben im Auftrag der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts, die offenbar kein Problem darin sah, Peters trotz der bereits seit Beginn der 1890er-Jahre kursierenden Gerüchte über seine Gewaltexzesse7 mit einer solchen Aufgabe weiter zu betrauen, rückte das Werk vor allem die wirtschaftlichen Potentiale der Kolonie ins Zentrum. Dabei folgte Peters mit seiner Argumentation offenkundig zunächst dem Vorbild des Leipziger Geographen Hans Meyer, der sich bereits in seinem 1890 veröffentlichten Reisebericht über die erfolgreiche Besteigung des Kibo-Kraters (des höchsten Gipfels des Kilimandscharo) ausführlich zu den kolonialen Möglichkeiten vor Ort geäußert hatte.8

Kein Zweifel, Peters ging es in seinem Werk, qua Gestus ganz in der Nachfolge Meyers, um eine umfassende Bestandsaufnahme, auf deren Basis die künftige Landnahme zu erfolgen habe. Hierbei bediente er sich der Beschreibungsverfahren der zeitgenössischen Geographie, die zusehends für sich in Anspruch nahm, als neue systematische Wissenschaft am jüngst ausgerufenen „naturwissenschaftlichen Zeitalter“ zu partizipieren. Außerdem rekurrierte Peters auf eine Rhetorik der Sachlichkeit und Nüchternheit, betonte Zahlen, Daten, Fakten – so unvollständig und lückenhaft sie bisweilen sein mochten. Sein Werk war also systematisch angelegt, und so handelte er gleichsam Schritt für Schritt sämtliche Regionen, sämtliche Landstriche und Landschaften ab, die nach den inzwischen erfolgten Grenzfestlegungen dem deutschen Herrschaftsgebiet hinzuzurechnen sein sollten. Alles in allem zeichnete Peters in seinem Werk auf diese Weise ein auf Vollständigkeit bedachtes, seriöses Portrait der neuen ostafrikanischen Kolonie – so zumindest der Anspruch. Das Werk sollte ein Grundlagenwerk sein und als solches der politischen Entscheidungsfindung dienen. Nicht zuletzt deshalb rekurrierte der Autor im Abschlusskapitel zu guter Letzt auf die Zukunft der kolonialen Unternehmung. Diese sollte, seiner Vision folgend, mit dem Deutschen Reich künftig vor allem durch regen Handel eng verknüpft sein.9

Dem Werk beigelegt war auch eine separate Mappe mit drei Karten: Neben einer ersten Karte mit dem Titel „Äquatorial Ost-Afrika“, die die Topographie und auch die zwölf neu eingerichteten Bezirke der deutschen Kolonialverwaltung auswies, und einer weiteren zur geologischen Beschaffenheit über das Gebiet, fügte Peters seiner Schrift außerdem eine sogenannte „Werthschätzungs-Karte des Deutsch-ostafrikanischen Schutzgebietes“ hinzu.10 Dieses Stück ist insofern bemerkenswert, als es viele der auf den gut 450 Seiten versammelten Daten und Fakten in gewisser Weise auf einem Blatt zusammenzuführen suchte.11 Gezeichnet von einem gewissen Otto Herkt, über den als Kartograph kaum etwas bekannt ist, und vermutlich veröffentlicht in der geographischen Verlagsbuchhandlung Dietrich Reimer in Berlin, die seit Beginn der 1890er-Jahre für Kartierung der Kolonialgebiete verantwortlich zeichnete12, bot das lediglich 45 mal 52 cm umfassende, handliche Stück ein einprägsames Bild. Dabei war die in sorgsam abgestuften Pastelltönen gehaltene Lithographie überaus ansprechend gestaltet, und die im Text von Peters entwickelten „Wertschätzungsklassen“ farblich klar voneinander abgehoben.13

Gezeigt wurden zunächst das für „die Besiedlung geeignete Gebiet“ in Grün (und zwar einmal für den Ackerbau in dunklerem sowie für die Viehzucht in hellerem Farbton gehalten); sodann die Gebiete, „die sich für den tropischen Plantagenanbau eignen“ in auffälligem Rot, wobei hier der dunklere Farbton für „die Hochlandkulturen (Kaffee, Tee, Kardamon etc.)“, der hellere Farbton hingegen für die Tieflandkulturen („Baumwolle, Reis, Cocosnussp.[almen]“ vorgesehen waren. Eine dritte Kategorie schließlich markierte in einem hellen Beigeton die für die „Eingeborenen“ vorgesehenen „Kultivationsgebiete“, eine vierte schließlich die vor allem im Westen des Landes gelegenen „unbewohnten Steppen“, von den anderen Gebieten farblich abgesetzt in einem dunkler gehaltenen Braun-Beige.

Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht gleichwohl eine erste augenfällige Mischkategorie, die in Form einer grün-braun-beige schraffierten Fläche die Gebiete der viehzüchtenden wandernden Massai auf dem Kartenblatt auswies. Diese als „tiefliegende Steppe“ bezeichneten Landstriche wurden auffälliger Weise den besiedlungsfähigen Gebieten hinzugerechnet. Doch über die so nur knapp skizzierten, in der Legende eigens ausgeführten „Wertschätzungsklassen“ hinaus führte die Karte auch noch weitere Gebiete mit potentieller Mischnutzung vor Augen: So erschienen etwa die weitläufig nordöstlich des Nyassasees gelegenen Flächen sowohl für Viehzucht, als auch – zumindest teilweise – „für den Ackerbau geeignet“; und ebenso wurde weiter westlich, Richtung Küste, südöstlich von Bagamoyo, ein beträchtliches Gebiet sowohl als „für den Plantagenanbau“ als auch „für den Ackerbau geeignet“ ausgewiesen. Kurzum, bei einem genaueren Blick auf die Karte, gab es weitaus mehr Mischungen respektive potentiell gemischte Nutzungsmöglichkeiten. Und genau damit hätte es Peters bewenden lassen können.

Stattdessen aber machte ein Kurzkommentar in der Legende die soeben mithilfe des Kartenbilds überzeugend visualisierte Klassifikation, mithin die entwickelten „Wertschätzungsklassen“, sogleich wieder zu Nichte. Denn hier hieß es:

„Die aufgeführten Unterscheidungen sind keine absoluten, sondern die Grenzen gehen naturgemäß ineinander über: Besiedlungsfähige Ackerbauländer schließen Viehzucht nicht aus, und umgekehrt. Ebenso werden sich einzelne der Besiedlungsgebiete auch zu Hochlandplantagen, die Plantagengebiete auch zu Kultivationsdistrikten eignen.“14

Klarer hätte Peters es wohl kaum formulieren können, dass die Karte, was die Bodenbeschaffenheit und das Klima anging, neben einer ersten auch eine zweite, doppelte Botschaft beinhalten sollte: Zum einen sollte sie verschiedene Regionen der neuen deutschen Kolonie für eine jeweils unterschiedliche mögliche Nutzung ausweisen, zum anderen und zugleich sollte diese mögliche unterschiedliche Nutzung aber auch potentiell an vielen Stellen austauschbar sein – mithin durchaus flexibel erfolgen. Wirkliche Einschränkungen gab es der zweiten Lesart folgend also deutlich weniger, als es ein erster Blick auf die Karte nahelegen könnte.

Mit derartigen Setzungen setzte sich Peters explizit gegenüber anderen Geowissenschaftlern, wie etwa Hans Meyer, ab. Dieser hatte, als früher Verfechter einer auf geowissenschaftlichen Erkenntnissen beruhenden kolonialen Landnahme, wiederholt dafür plädiert, die örtlichen Gegebenheiten zur Planungsgrundlage jeglicher Kolonialunternehmungen zu erheben.15 Auf diese Weise hatte Meyer den Grundstein für die später als solche bezeichnete Kolonialgeographie gelegt und einen florierenden Forschungsbereich geschaffen, den er ab 1915 auf einem von ihm selbst gestifteten Lehrstuhl an der Universität Leipzig vertreten sollte. Mehr noch, Geographen wie Meyer oder auch der Berliner Ordinarius Ferdinand Freiherr von Richthofen, setzten sich in der 1902 eingerichteten „Kommission für die landeskundliche Erforschung der Schutzgebiete im Reichskolonialamt“16 vehement dafür ein, die Erforschung der Kolonien möglichst breit zu fassen, um mögliche Fehlinvestitionen zu vermeiden. Für Meyer und seine Anhänger war das koloniale Projekt mit einer Fülle von Fallstricken verknüpft – nur umfängliche Forschung könne dem entgegenwirken. Wissenschaftliches Wissen und Kolonialismus sollten eng aufeinander bezogen sein, die Geltungsansprüche der Geowissenschaften die Kolonialpolitik möglichst umfassend bestimmen.17

Peters‘ mit großzügiger Geste vollzogene Gebietszuweisungen, die letztlich keine waren, stachen demgegenüber in Auge. Denn auch im begleitenden Text, der im Übrigen ausführlich auf die „Werthschätzungs-Karte“ rekurrierte, wurde Peters nicht müde, skeptische Äußerungen, was die mögliche Kulturvierbarkeit weiter Landstriche anging, zurückzuweisen. In gewisser Weise führte der Text, der beständig die kolonialen Möglichkeiten ausschmückte, die Karte bzw. den Versuch, differenzierende „Wertschätzungklassen“ zu visualisieren, immer wieder aufs Neue ad absurdum. Das anfänglich klar benannte Ziel einer differenzierten, sachlichen Bestandsaufnahme, die der Kartograph offenbar umzusetzen versucht hatte, wurde somit nicht nur durch die kurze Bemerkung in der Legende, sondern vor allem im zusammenfassenden ausführlichen Schlusskapitel über die gewünschte „wirtschaftliche Besitzergreifung von Deutsch-Ostfafrika[s]“ insgesamt konterkariert.18

Doch das für die „Werthschätzungs-Karte“ gewählte Flächenkolorit, das in seiner Wirkung Peters‘ Sicht auf die unbegrenzten kolonialen Möglichkeiten nahezu diametral entgegenstand, barg noch weitere Tücken: Diese waren mit dem gewählten Maßstab verbunden. Denn mit der vorgelegten Projektion des Schutzgebiets im Maßstab 1: 3 000 000 handelte es sich um eine immense Verkleinerung, die vermutlich jegliche Vorstellungskraft vieler sprengte. Zwar bot das nur das lediglich 45 mal 52 cm umfassende Kartenblatt einen Überblick. Dessen ungeachtet dürften sich aber vermutlich nur die Wenigsten vor Augen geführt respektive ausgerechnet haben, dass 1 cm auf dem Kartenblatt auf eine Strecke von 30 km bezogen sein sollte. Jegliche Details konnten bei der Wahl eines solchen Maßstabs selbstredend nicht korrekt bzw. maßstabsgerecht aufgeführt werden. Entsprechend musste Herkt entscheiden, was auf dem Kartenblatt überhaupt Platz hatte und was nicht. Und all jenes, was dann schließlich auf der Karte aufgeführt werden sollte, war, nicht zuletzt um der Anschaulichkeit willen, gegebenenfalls zu vergrößern, um es überhaupt sichtbar machen zu können. Entsprechend sollten die auf der Karte farblich ausgewiesenen Gebiete nicht at face value gelesen werden. Stattdessen ist anzuerkennen, dass der Maßstab, mithin die ungeheure Verkleinerung, danach verlangte, die jeweiligen Einzelflächen ihrerseits zu vergrößern, um sie überhaupt zu zeigen bzw. in das Kartenbild gelungen integrieren zu können. Zweifelhaft ist allerdings, ob solche gängigen Verfahren kartographischer Generalisierung den zeitgenössischen Leserinnen und Lesern bekannt waren, war doch solide map literacy im Kaiserreich außerhalb der Geowissenschaften vermutlich wohl eher nur wenig verbreitet.19 Umso mehr dürfte es dem Kartographen womöglich gelungen sein, jene Evidenz zu vermitteln, die wissenschaftlichen Bildern, und daher auch Karten, trotz all der beobachtbaren Ambivalenzen zu eigen war.20

In der Geschichtsschreibung Tansanias, in der die Zeit der deutschen Kolonialherrschaft inzwischen als eine zumindest in Teilaspekten durchaus gut beforschte Epoche gelten kann, ist inzwischen mehrfach darauf hingewiesen worden, dass nicht zuletzt die Weitläufigkeit des Landes zu den Faktoren gehörte, die die deutschen Kolonialisten durchgängig unterschätzen sollten.21 Statt, wie das Kartenbild nahelegte, mögliche großflächige Herrschaftsgebiete zu errichten, mitsamt umfänglicher Besiedlung und weit ausgebauter Plantagenwirtschaft, erwies sich das koloniale Projekt vor Ort als überaus störanfällig, lückenhaft und fragil. Kurzum: Alle Vorhaben, das Land umfassend zu beforschen, mithilfe des Eisenbahnbaus zu erschließen, es zu besiedeln und einen wirtschaftlich prosperierenden Handel zu schaffen, scheiterten oder sollten sich, über die Jahre hinweg, zumindest als ungemein aufwändig erweisen und das nicht zuletzt aufgrund der Größe der betreffenden Gebiete und der nur schwer zu überwindenden Entfernungen, die allesamt auf dem Kartenblatt so leicht überwindbar erschienen waren. Allen Anstrengungen und allen Ambitionen zum Trotz konnten so in Deutsch-Ostafrika lediglich „Inseln von Herrschaft“ geschaffen werden22, und selbst diese sollten sich oftmals nur mithilfe von Gewalt aufrechterhalten und verteidigen lassen.23

Die im Auftrag der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amts von Carl Peters geschaffene Karte vermittelte demgegenüber ein weitaus rosigeres Bild der kolonialen Möglichkeiten und verwies, ihres wissenschaftlichen Anspruchs ungeachtet, auf ein Phantasiereich, das in dieser Form nicht einmal in Ansätzen existierte.24 War die „Wertschätzung-Karte“ somit kein „tool of Empire“, weil sie letztlich in die Irre führte? Oder, im Gegenteil, war sie es doch, weil sie die Kolonialenthusiasten ungeachtet aller möglichen Einwände motivierte, das koloniale Projekt vor Ort mit Energie voranzutreiben und fest an die Zukunft einer erfolgreichen deutschen kolonialen Landnahme zu glauben? Was also bedeutete eine Karte, die eigentlich nichts taugte?25

Vermutlich sind Fragen wie diese nur schwer mit Blick auf die genannte Einzelkarte zu entscheiden. Fest steht jedoch, dass sich Kartenserien, ja, dass sich das um 1900 ausbildende Genre der thematischen Karten, die sich wirtschaftlichen Fragen zuwandten, über eine längere Geschichte verfügen, führten Karten wie diese, anders als Texte oder Tabellen, doch jene wirtschaftlichen Möglichkeiten auch in ihren räumlichen Bezügen anschaulich vor Augen und machten sie vorstellbar – aller Tücken und aller Fehlinformationen zum Trotz. So unbeholfen und so ambivalent die um 1900 geschaffene „Werthschätzungs-Karte“ in der Rückschau also erscheinen mag, so sehr steht sie für ein Genre, das im 20. Jahrhundert auch in (post-)kolonialen Kontexten und hier nicht zuletzt in Zusammenhang mit Fragen der Wirtschaftsplanung und der sogenannten „Entwicklungszusammenarbeit“ weiter Bestand haben sollte. Alles in allem sollte die thematische Kartographie, und damit das Kartieren von Ressourcen und Verkehrswegen, mithin die Visualisierung raumbezogener Sozial- und Wirtschaftsdaten, im 20. Jahrhundert unübersehbar an Relevanz gewinnen – und das auch, wenn nicht sogar gerade, in Zeiten der Dekolonisation.26

Die schon in der „Wertschätzungs-Karte“ von Peters und Herkt unübersehbar schwierig anmutende Übertragung der Rohdaten ins geschlossene Kartenbild sollte sich dabei freilich weiterhin als zwiespältig erweisen, konnten doch auch diese neueren Visualisierungen dem eigenwilligen Zusammenspiel von Flächenkolorit und Maßstäblichkeit, kurzum den Tücken des Genres, nicht ohne Weiteres entkommen. Und so gehört die wohlkalkulierte Extrapolation von Daten und auch das sorgsame Arrangement der Farben und Flächen zweifellos noch heute zu den zumeist nicht weiter eigens hervorgehobenen, eher unausgesprochenen Regeln kartographischen Argumentierens. Bei sogenannten Wirtschaftskarten geht es dabei womöglich nach wie vor, wie schon um 1900, vorrangig darum, vorhandene Potentiale und den möglichen wirtschaftlichen Nutzen ins rechte Licht zu rücken.27 Auch dies ist ein ambivalentes Erbe jener vielschichtigen transimperialen europäischen Wissensregime, die bereits um 1900 mit großem Aufwand darauf abhoben, Geowissen zu visualisieren. All dies geschah und geschieht womöglich in erster Linie um einer möglichst eindeutigen Botschaft willen – eine Botschaft, die für viele, mangels map literacy, wohl kaum in ihrer komplexen Darstellungsweise und in ihren Reduktionsverfahren zu dechiffrieren (gewesen) sein dürfte.

Weiterführende Literatur:

Blais, Hélène, Mirages de la carte. L’invention de l’Algérie coloniale XIXe-XXe siècle, Paris 2014.

Ehlers, Sarah, Europa und die Schlafkrankheit. Koloniale Seuchenbekämpfung, europäische Identitäten und moderne Medizin, Göttingen 2019.

Gißibl, Bernhard, The Nature of German Imperialism. Conservation and the Politics of Wildlife in Colonial East Africa, New York/ Oxford 2015.

Schneider, Ute, Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute, 4. Aufl., Darmstadt 2018.


  1. Vgl. zu diesen wechselvollen Konstellationen die Überlegungen bei Florian Wagner, The Pitfalls of Teaching a Common Colonial Past. Colonial Internationalism and the Invention of a Shared European History (1830s-1960s), in: Susanne Popp / Katja Gorbahn / Susanne Grindel (Hrsg.), Colonialism and History Teaching, Bern 2019, S. 75-114.↩︎

  2. Vgl. Carl Peters, Das Deutsch-Ostafrikanische Schutzgebiet, im amtlichen Auftrage, München 1895. Das Werk ist digital verfügbar über die Staats- und Universitätsbibliothek Bremen: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:gbv:46:1-12541 [211001]; hier finden sich im Anhang auch die genannten Verträge S. 421ff. und für den Vertrag mit dem Sultan von Sansibar Sayyid Chalifa ibn Said al-Busaidi, S. 428ff.↩︎

  3. Vgl. beispielgebend Donald A. Low, Fabrication of Empire. The British and the Uganda Kingdoms, 1890 - 1902, Cambridge 2009.↩︎

  4. Ebenfalls abgedruckt in: Peters, Schutzgebiet, S. 428ff.und S. 437ff.↩︎

  5. Wie alltäglich Übergriffe in kolonialen Kontexten waren, aber auch unter welchen Umständen diese erst – wenn überhaupt – geahndet wurden, zeigt beispielhaft: Rebekka Habermas, Skandal in Togo. Ein Kapitel deutsche Kolonialherrschaft, Frankfurt/Main 2016.↩︎

  6. Vgl. Peters, Schutzgebiet, Kapitel IV, S. 376- 419.↩︎

  7. Vgl. Arne Perras, Carl Peters and German Imperialism 1856 - 1918 . A Political Biography, Oxford 2004, S. 205-230.↩︎

  8. Vgl. Hans Meyer, Ostafrikanische Gletscherfahrten: Forschungsreisen im Kilimandscharo-Gebiet, Leipzig 1890, bes. Kapitel IX, „Zur Geographie des Kilimandscharo“, S. 257- 300.↩︎

  9. Zum engen Zusammenhang von kolonialem Projekt und geographischer Expertise, vgl. Carsten Gräbel, Die Erforschung der Kolonien. Expeditionen und koloniale Wissenskultur deutscher Geographen, 1884-1919, Bielefeld 2015.↩︎

  10. S. Quelle: Werthschätzungs-Karte.↩︎

  11. Peters, Schutzgebiet, S.377: hier bezeichnet Peters die Karte als „das wesentliche kolonialpolitische Ergebnis meiner ganzen Darlegungen“.↩︎

  12. Vgl. Gräbel, Erforschung, S. 75-79, anders als auf der topographischen Karte und ist der Verlag im Falle der Werthschätzungs-Karte und der geologischen Übersichtskarte nicht eigens erwähnt, jedoch ist die Produktion im Reimer-Verlag zu vermuten, da es sich im eine kleiner Dreierserie als Beilage handelte.↩︎

  13. Zu diesem Begriff, s. Peters, Schutzgebiet, S.377, wobei die Schreibweise im Text von der Schreibweise auf der Karte abweicht. Für den Essay wurde diese uneinheitliche Schreibweise, je nachdem, ob von der Karte die Rede ist oder aus dem Text zitiert wird, beibehalten.↩︎

  14. Quelle: Werthschätzungs-Karte (Legende).↩︎

  15. Vgl. dazu Meyer, Gletscherfahren, bes. S. 288f., wo er sich mit Blick auf die von ihm bereiste Region kritisch zu den bereits zu Ende der 1880er Jahre von Peters propagierten umfassenden Kolonisationsoptionen äußerte.↩︎

  16. Dazu Gräbel, Erforschung, S. 93ff. sowie für den französische Kolonialgeographie Pascal Clerc, Des connaissances pour l’action. La géographie coloniale de Marcel Dubois et de Maurice Zimmermann, in: Géographies entre France et Allmagne (fin XIXe siècle- milieu XXe siècle) – Revue germanique internationale 20 (2014), S. 135-146.↩︎

  17. Die in dem Zusammenhang gesammelten Wissensbestände wiesen gleichwohl weit über die Grenzen der jeweiligen Kolonialgebiete hinaus. Sie waren somit Teil jenes transimperialen Wissens, das unterschiedlichste europäische Kolonialexperten gemeinsam voranzubringen suchten, vgl. dazu auch die Thesen bei Iris Schröder, Bananen und andere exotische Delikatessen. Wissenschaft und Kolonialismus - eine Skizze, in: Christian Frey u.a. (Hg.), Sinngeschichten. Festschrift für Ute Daniel, Köln 2013, S. 91-102.↩︎

  18. Vgl. Peters, Schutzgebiet, S. 376-419, vgl. bes. für den wissenschaftlichen Anspruch der erfolgten Aufteilung in Wertschätzungsklassen und den dazugehörigen notwendigen Differenzierungsgewinn S. 377, sowie im Kontrast dazu S. 380f. für das Gegenprogramm.↩︎

  19. Vgl. zur Frage der Generalisierung in der Kartographie: Mark Monmonier, How to lie with maps, 2.Aufl., Chicago 1996; die Frage der zeitgenössischen faktischen „map literacy“ gehört nach wie vor zu den großen Desiderata. ↩︎

  20. Vgl. dazu Martina Heßler / Dieter Mersch (Hrsg.), Logik des Bildlichen. Zur Kritik der ikonischen Vernunft, Bielefeld 2009. ↩︎

  21. Aus der umfangreichen Literatur sei hier nur beispielhaft hingewiesen auf: John Iliffe, A Modern History of Tanganyika, Cambridge 1979; Philippa Söldenwagner, Spaces of Negotiation : European Settlement and Settlers in German East Africa 1900 - 1914, München 2006; Richard Hölzl, Gläubige Imperialisten. Katholische Mission in Deutschland und Ostafrika (1830-1960), Frankfurt am Main 2021. ↩︎

  22. Vgl. zu dieser konzisen Beobachtung Michael Pesek, Koloniale Herrschaft in Deutsch-Ostafrika : Expeditionen, Militär und Verwaltung seit 1880, Frankfurt am Main 2005.↩︎

  23. Michelle Moyd, Violent Intermediaries. African Soldiers, Conquest, and Everyday Colonialism in German East Africa, Athens 2014 sowie demnächst Michael Rösser, ‚Islands of Sovereignty‘. Labor, Recruitment and Command in German East Africa, Ms., Phil. Diss., Universität Erfurt, Erfurt 2021. ↩︎

  24. Es handelte sich dabei um ein Phantasiereich, das im Übrigen zu der Zeit auch nur eine Minderheit verlangte, galt der Kolonialbesitz in Afrika doch insgesamt als Verlustgeschäft, wie die auch die breite zeitgenössische Pressedebatte über die imperiale Expansion und die dazugehörigen Gewaltexzesse belegt, vgl. Christian Methfessel, Kontroverse Gewalt. Die imperiale Expansion in der englischen und deutschen Presse vor dem Ersten Weltkrieg, Wien 2019; sowie zu den phantastischen Dimensionen des kolonialen Projekts aus literatur- und medienwissenschaftlicher Sicht: Wolfgang Struck, Die Eroberung der Phantasie. Kolonialismus, Literatur und Film zwischen Deutschem Kaiserreich und Weimarer Republik, Göttingen 2010.↩︎

  25. Vgl. dazu die Thesen bei Daniel R. Headrick, The Tools of Empire: Technology and European Imperialism in the Nineteenth Century, Oxford 1981; deutlich skeptischer hingegen mit Blick auf die Wirkmächtigkeit von Karten: Jane Burbank / Frederick Cooper, Empires in World History. Power and the Politics of Difference, Princeton 2010.↩︎

  26. Vgl. Kurt Kayser u.a., Das Afrika-Kartenwerk. Ein Schwerpunkt-Programm der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in: Die Erde 2 (1966), S. 85-95 sowie für erste Überlegungen in diese Richtung, Ute Schneider, Wartezeit beendet. Das „Afrika-Kartenwerk“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft, in: Stephan Günzel / Lars Nowak (Hrsg.), KartenWissen. Territoriale Räume zwischen Bild und Diagramm, Wiesbaden 2012, S. 245-264; Julie MacArthur, Cartography and the Political Imagination. Mapping Community in Colonial Kenya, Athens 2016 sowie zur thematischen Kartographie allgemein: Terry A Slocum / Fritz Kessler, Art. Thematic Mapping, in: Mark Monmonier (Hrsg.), The History of Cartography, Bd. 6,2: Cartography in the Twentieth Century, Chicago 2015, S. 1500-1524.↩︎

  27. Vgl. dazu aus soziologischer und wissenschaftshistorischer Sicht, allerdings ohne Bezug auf Karten: Bettina Heintz, Welterzeugung durch Zahlen. Modelle politischer Differenzierung in internationalen Statistiken, 1948-2011, in: Cornelia Bohn (Hrsg.), Welterzeugung durch Bilder (Themenheft Soziale Systeme 1+2/2012), Stuttgart 2013, S. 7-39; Sabine Höhler / Lea Haller / Andrea Westermann, Einleitung. Rechnen mit der Natur. Ökonomische Kalküle um Ressourcen, in: Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 37 (2014), S. 8-19.↩︎

Autorin

Iris Schröder ist seit 2013 Inhaberin der Professur für Globalgeschichte des 19. Jahrhunderts an der Universität Erfurt sowie stellvertretende Direktorin am Forschungszentrum Gotha. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Historische Wissenschaftsforschung, Kulturgeschichte der Geographie, Globalisierungen des Wissens, Stadt- und Urbanisierungsgeschichte, Geschlechtergeschichte, Internationale Geschichte, die Historiographie der Europäischen Geschichte und der Globalgeschichte, Visual History sowie Geschichte im Netz. https://www.uni-erfurt.de/philosophische-fakultaet/seminare-professuren/historisches-seminar/professuren/globalgeschichte/personen/prof-dr-iris-schroeder