Einleitung

Mit der zunehmenden Digitalisierung von Gesellschaft und Wissenschaft in den vergangenen fünfzig Jahren haben sich auch die Geschichtswissenschaften stark verändert. Dieser Prozess innerhalb des Fachs begann zunächst in methodischen Spezialgebieten wie der Quantifizierung und Historischen Statistik, die frühzeitig auf die Nutzung von Computern zurückgriffen. Bereits in den 1970er-Jahren stand diese Nutzung von Computern im Fokus innerfachlicher Debatten über die methodische Ausrichtung der Geschichtswissenschaften. Eine zweite Welle der Digitalisierung respektive der Vernetzung des Fachs durch die Nutzung des Internets seit Mitte der 1990er-Jahre hat methodische Debatten einer „Digitalen Geschichtswissenschaften“ erneut auf die Tagesordnung gesetzt, vor allem aber einen tiefgreifenden Wandel von Praktiken in Gang gesetzt, der sich nicht länger auf einzelne Bereiche oder eine bestimmte Generation konzentriert.

Beide Entwicklungen haben Rüdiger Hohls geprägt, wie auch er selbst Teil und Motor dieser Entwicklungen in den deutschen Geschichtswissenschaften ist. Das Digitale in den Geschichtswissenschaften beschäftigt ihn seit Beginn seiner akademischen Laufbahn und zieht sich als roter Faden durch seine vielfältigen Interessen, Projekte und Errungenschaften. In Gestalt der Historischen Statistik sind digitale Methoden integraler Bestandteil seiner Forschungen. Als Sozialhistoriker widmete er sich in seiner Dissertation der Erforschung von Arbeitseinkommen und Erwerbstrukturen auf Basis rechnergestützter Auswertungen. Seit Mitte der 1990er-Jahre sind es vor allem die digitale Fachinformation und -kommunikation sowie das digitale Publizieren, die im Zentrum seiner Interessen stehen.

Ausgehend von dem von ihm 1996 mitgegründeten Projekt H-Soz-Kult (https://www.hsozkult.de) konsolidierten und differenzierten sich die digitalen Fachkommunikationsdienste unter seiner Leitung immer weiter aus: So initiierte er und begleitet bis heute das Verbundprojekt und Fachportal Clio-online (https://www.clio-online.de) sowie den gleichnamigen Trägerverein, einen Zusammenschluss von Partnern aus Archiven, Bibliotheken, Universitäten und außeruniversitären Forschungseinrichtungen; dieser Verein (https://www.clio-online.de/verein) wiederum ist Träger zahlreicher digitaler Portal- und Publikationsprojekte über die Fachgrenzen hinaus, die alle dem Open-Access-Gedanken verpflichtet sind. Dazu zählt etwa das Themenportal Europäische Geschichte (https://www.europa.clio-online.de), das Rüdiger Hohls mitbegründet hat. Mit einem eigens dafür entwickelten Format – der Besprechung einer Einzelquelle in Form eines Essays – nimmt dieses verschiedene Facetten der Europäischen Geschichte und Europäisierung von der Frühen Neuzeit bis in die Gegenwart in den Fokus. Das Fachinformationsforum H-Soz-Kult wiederum mit seinen Wurzeln im amerikanischen H-NET Verbund (https://www.h-net.org) zählt heute zu den populärsten und meistgenutzten Informationsdiensten in den Geisteswissenschaften weltweit. Mehr als 30.000 Abonnent/innen und 250.000 Leser/innen monatlich nutzen Mailinglisten, Newsletter und Website von H-Soz-Kult. Und wie H-Soz-Kult, verdanken auch alle weiteren Projekte unter dem Dach des Trägervereins Clio-online dem Einsatz von Rüdiger Hohls viel, bietet ihnen der Verein doch verlässliche rechtliche, technische und organisatorische Rahmenbedingungen.

Wenn nun eine Festschrift für Rüdiger Hohls ansteht, so scheint es uns ohne Zweifel konsequent, Digitalisierung und Vernetzung und ihre Wirkungen ins Zentrum dieses Sammelwerks zu stellen: Inhaltlich, aber auch formal durch eine hybride Publikation, ganz im Sinne des Open Access, dessen Idee in Projekten wie H-Soz-Kult früh in die Geschichtswissenschaft getragen wurde. Ebenso aber stehen die geschichtswissenschaftlichen Interessen von Rüdiger Hohls – angefangen von der Historischen Statistik und Sozialgeschichte, über den Umgang mit NS-Täterschaft, die Geschichte der Europäisierung und natürlich Fachinformation und Fachkommunikation bis hin zur Wissenschafts- und Hochschulpolitik – im Kontext von Digitalisierung und Vernetzung, sodass auch diese einbezogen werden.

Geprägt in seinem Wirken hat Rüdiger Hohls auch das Institut für Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. Als DV-Beauftragter war und ist er bis heute auch für die alltägliche, umfassende Versorgung von Wissenschaftler/innen mit IT-Infrastrukturen zuständig. Mit Initiativen für die Einführung von Lehrmanagementsystemen schon Ende der 1990er-Jahre und seiner Mitarbeit in der Medienkommission weit über ein Jahrzehnt lang hat er maßgeblich an der Digitalisierung nicht nur der Forschung, sondern auch der Lehre an der Humboldt-Universität mitgewirkt.

Aus der universitären Lehre heraus entstand auch sein gemeinsam mit Konrad Jarausch Ende der 1990er-Jahre veröffentlichtes Interviewprojekt zum Wirken deutscher Historiker im Nationalsozialismus. Diese wichtige Debatte zu unbequemen Kontinuitäten in den Geschichtswissenschaften hat Rüdiger Hohls dann in mehreren Foren auf H-Soz-Kult umfassend weitergeführt.

Neben seiner Honorarprofessur für Digitale Geisteswissenschaften in Leipzig hat er sich auch in unzähligen Sitzungen und Papieren für eine Verankerung der Digitalen Geschichtswissenschaften in Lehre und Forschung an seinem eigenen Institut eingesetzt. Belohnt wurden diese Strapazen schließlich mit der Einrichtung einer Professur für Digitale Geschichtswissenschaften an der HU.

Rüdiger Hohls hat ohne Zweifel prägenden Einfluss auf die Digitalisierung in den Geschichtswissenschaften über Berlin und Leipzig hinaus in ganz Deutschland. Zu den Konsequenzen dieser vielschichtigen Entwicklung zählen beispielsweise die Beschleunigung von Information und Kommunikation, die Enthierarchisierung mancher Wissenschaftsstrukturen und die umfassende Vernetzung von Infrastrukturen und Wissenschaftler/innen. Dies sind ohne Frage wesentliche und oft positiv konnotierte Auswirkungen der Digitalisierung auch in der Geschichtswissenschaft. Die Erfolge digitaler Geschichtswissenschaft werden von dem unablässigen Engagement einzelner Personen getragen, ihrem Beharrungsvermögen und ihrer Ausdauer, weit über das an Universitäten generell nicht geringe Maß der Selbstausbeutung hinaus. Digitalisierung findet nicht so nebenbei statt. Digitalisierung war und ist auch heute eben doch immer zusätzliche Arbeit, die – wenn wieder einmal eine Festplatte stehen bleibt, der Webserver ins Visier von Angreifern gerät oder die Vielzahl der ungelesenen E-Mails erdrückend scheint – auch keinen Aufschub duldet. Rüdiger Hohls wusste nur zu gut, dass im Maschinenraum der Digitalisierung ein gehöriges Maß von Mehrarbeit geleistet werden muss, Arbeit, die meist erst dann sichtbar wird, wenn der Dampfer kurz ins Stocken gerät. Als er auf den Vorschlag, „so etwas wie eine deutschsprachige ‚H-German‘-Liste aufzumachen“, erwiderte, das „finde ich vom Prinzip her nicht schlecht; nur darf das Ganze keine zusaeztliche [sic] Arbeit hervorrufen“, dann nicht, weil er diesen Aufwand scheute, sondern weil er sich zuvor schon mehr als genug aufgebürdet hatte. Und obwohl er damals schon wusste, dass solch ein Unternehmen kein Selbstläufer wird, konnte er nicht in Ansätzen ahnen, wie stark ihn diese neue Aufgabe über die nächsten fünfundzwanzig Jahre auslasten würde.

Als Herausgeber/innen haben wir diese Lektion von ihm gelernt: Bei allem Wunsch, die Digitalisierung des Fachs mit voranzutreiben, dürfen wir nie vergessen, dass diese Tätigkeit fast immer mit dauerhaftem Mehraufwand verbunden ist. Genauso wichtig wie der Blick auf die scheinbar grenzenlosen Möglichkeiten der neuen Medien ist deshalb die Machbarkeitsfrage. Aus dem Wunsch von Rüdiger Hohls nach Beschränkung spricht die zentrale Einsicht, dass nur unter kluger Beschränkung der Mittel eine Dauerhaftigkeit von Projekten zu erreichen ist. Gerade weil Rüdiger Hohls uns gezeigt hat, wie sehr die Digitalisierung des Fachs von der ihm eigenen Verschränkung von Weitblick mit dem steten Wissen um die Beschränktheit aller Mittel profitiert hat, können wir über seinen frommen Wunsch aus Anfangszeiten heute so befreit schmunzeln.

Diese Festschrift verdankt ihren wachsenden Umfang vielen Kolleg/innen, Freund/innen und Wegbegleiter/innen von Rüdiger Hohls, die aus Begegnungen und dem gemeinsamen Wirken mit Rüdiger Hohls berichten und Einblicke in die Themen geben, die Rüdiger Hohls geprägt hat bzw. ihn geprägt haben. Auf der Website zur Festschrift werden wir diese Beiträge fortlaufend veröffentlichen. Und wir hoffen, dass wir im Gegensatz zu den gegenwärtigen pandemiebedingen Einschränkungen im Herbst 2021 das arbeitsrechtliche Ausscheiden von Rüdiger Hohls aus der Digitalisierung der Geschichtswissenschaften mit dem 25-jährigen Jubiläum von H-Soz-Kult verknüpfen können und auf dem Historikertag zurück in München, wo das Projekt seinen Anfang nahm, nicht bloß digital sondern wieder in persona gebührend feiern können!

Die Reihe der Beiträge wird eröffnet durch zwei langjähriger Kollegen und Freunde Rüdiger Hohls‘. Konrad Jarausch, deutsch-amerikanischer Historiker und ehemaliger Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung (ZZF) in Potsdam, war an der Gründung von H-Soz-Kult und viele Jahre als Redakteur beteiligt und hat gemeinsam mit Rüdiger Hohls zu unbequemen Kontinuitäten in den Geschichtswissenschaften geforscht, er berichtet über die Anfänge von H-Soz-Kult Mitte der 1990er Jahre. Ewald Frie, Professor für die Geschichte des 19. Jahrhundert, gibt in seiner quasi zweiten Laudatio auf das Wirken von Rüdiger Hohls im Kontext von H-Soz-Kult auch Einblick in seine Zeit als Rezensionsredakteur von H-Soz-Kult und die Entwicklung und Wirkung dieses Projekts, an der er übrigens ebenso gebührenden Anteil hatte.

Daniel Burckhardt – Thomas Meyer – Claudia Prinz