Sprachvergleich
Gewissen – sumienie – svedomie – svědomí
In allen hier miteinander verglichenen Sprachen sind die beiden folgenden Profile von Gewissen vorhanden: ein religiöses und ein säkulares Profil. Für alle Sprachen gilt, dass sich die beiden Profile nach Beleglage in semantisch-syntaktischer Hinsicht oder in Bezug auf die Kollokatoren usw. nicht unterscheiden. Über die Zuordnung zum religiösen oder säkularen Profil entscheiden allein der Kontext und der jeweilige Referent. Dies dokumentieren auch die Kollokationen und Belege in den einzelnen Sprachen. Aus diesem Grund erübrigt sich eine weitere Differenzierung der Profilbezeichnungen.
In beiden Profilen kommen entsprechend dem oben Gesagten häufig die gleichen Phraseme (Stimme des Gewissens), Kollokationen (poln. czyste sumienie/ reines Gewissen, spokojne sumienie/ ruhiges Gewissen, seinem Gewissen folgen, seinem Gewissen verantwortlich sein) und z.T. inaltlich analoge Wortbildungen (im Deutschen als Kompositum Gewissenserforschung, in den slawischen Sprachen als Phrasem relaisiert, vgl. poln. rachunek sumienia) vor. Ein großer Teil dieser Phraseme und Kollokationen ist usuell eindeutig auf säkulare Kontexte beschränkt. Vgl. dt. nach bestem Wissen und Gewissen, jmdm. ins Gewissen reden; poln. przemówić (komuś)do sumienia/ do (czyjegoś)sumienia, więzień sumienia ‘politischer Gefangener [wörtl. Gewissenshäftling]’, sumienie świata,narodu,ludzkości/ Gewissen der Welt, der Nation, der Menschheit ‘über jmdn. der als moralische Autorität angesehen wird’; slow. mať široké svedomie ‘etw. ohne Scham tun, ohne Gewissenbisse tun’, mať zlé svedomie/ (vermutlich eine Lehnprägung nach dem dt. Muster ein schlechtes Gewissen haben), tschech.: podle (svého) nejlepšího vědomí a svědomí(vermutlich in Anlehnung an das dt. Phrasem nach dem besten Wissen und Gewissen), živé svědomí‘ eine Person oder Institution, die auf moralisches Handeln pocht’, vězeň svědomí ‘politischer Gefangener’.
Wichtiger aber ist die Feststellung, dass es (mit Ausnahme einiger weniger weiter unten aufgeführter Fälle) keine Phraseme gibt, die ausschließlich oder primär dem religiösen Profil zuzuordnen sind.
Das Lexem Gewissen gehört daher nicht dem genuin religiösen Wortschatz an. Es wird von den Sprechern im Allgemeinen nicht als religiös empfunden; die Belege dokumentieren einen überwiegenden Gebrauch des Wortes in säkularer Verwendung. Aus diesem Grund steht in diesem Wörterbuch das säkulare als maßgebliches Profil vor dem religiösen Profil. Dies entspricht auch der Praxis in den modernen Bedeutungswörterbüchern der untersuchten Sprachen.
Für die weitgehend deckungsgleiche Entwicklung des Lexems auf allen untersuchten Sprachebenen dürfte auch der Umstand verantwortlich sein, dass das Wort in allen Sprachen eine Lehnübersetzung des Lateinischen conscientia ist (ebenso: griech. syneidēsis, beides bedeutet wörtlich ‘Mitwissen’ im Sinne des Wissens einer höheren Instanz um das eigene Handeln, was sowohl religiös auf Gott als auch eher säkular auf ethische und moralische Regeln bezogen werden kann. Der Apostel Paulus gibt syneidēsisdagegen z.B. in seinen Briefen eine stark religiöse Akzentuierung: ‘das dem Menschen ins Herz geschriebene Gesetz Gottesʼ.
In den untersuchten Sprachen lassen sich in der Wortverwendung keine neuen Tendenzen oder Erschließung neuer Domänen erkennen. Da das Wort ein Abstraktum ist, eignet sich Gewissen kaum zur bildlichen Darstellung in der Werbung u.Ä. (eines der seltenen Abbildungsversuche ist im vorliegenden Wörterbuch unter der Rubrik kulturelle Kontexte im Deutschen zu finden). Die im vorliegenden Wörterbuch erfassten Derivate und Phraseme, die bei anderen hier behandelten Lemmata häufig Ausgangspunkte von Bedeutungsverschiebungen und -erweiterungen darstellen, sind allesamt bereits seit langem in den jeweiligen Sprachen etabliert und unterscheiden sich in den untersuchten Sprachen nur in Details voneinander. Dabei ist eine historische Abhängigkeit des Tschechischen und Slowakischen vom Deutschen bemerkbar (vide phraseologische Lehnprägungen), ghegenwärtig ist im Polnischen mindestens eine Entlehnung aus dem Englischen zu verzeichnen: prisoner of conscience - więzień sumienia [wört. Gefangener des Gewissens] ‘politischer Gefangener’.
Die Phraseologie, die Wortbildung sowie die Kollokationen sind im säkularen Profil stärker entwickelt. Primär religiös sind nur die Derivate Gewissensspiegel, Gewissenserforschung und seine (ungefähren) Entsprechungen in den slawischen Sprachen, die entweder als Genitivverbindung zweier Substantive z.B. poln.: rachunek sumienia oder als Verbindung von Verb und Substantiv wie im Tschechischen auftreten: zpytovat svědomí ‘das Gewissen erforschen’.