Übersicht
religiös | quasireligiös | Amnestie | Mitleid | paternalistisch | intensivierend | |
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Deutsch | ||||||
Polnisch | ||||||
Slowakisch | ||||||
Tschechisch |
de:123456
pl:12345
sk:12345
cz:12345
Sprachvergleich
Gnade – łaska – milosť – milost
Bei den Wörtern Gnade (deutsch), łaska (polnisch), milosť (slowakisch) und milost (tschechisch) wurden im vorliegenden Wörterbuch folgende Profile ausgegliedert:
- religiös: ‘Güte und Erbarmen Gottes’
- quasireligiös: ‘Gabe’
- Amnestieprofil: ‘Erlass oder Milderung einer Strafe’
- Mitleidsprofil: ‘Mitleid, Rücksicht’
- paternalistisch: ‘Gunst’
Das intensivierende Profil (‘negiert, über jmds. Willensstärke, hartes Vorgehen’) wurde lediglich für dt. Gnade und eingeschränkt für slow. milosť und tschech. milost belegt. Die Polysemie von Gnade/ łaska/ milosť/ milost ist also bis auf das fehlende intensivierende Profil im Polnischen in allen vier Sprachen deckungsgleich. Durch weitgehende Äquivalenz und Ähnlichkeiten zwischen den Sprachen sind auch die Wortbildungen, die Phraseme und teilweise auch die Kollokationen in den einzelnen Profilen gekennzeichnet. In allen vier Sprachen bestehen die ausgegliederten Profile seit Langem, Neusemantismen konnten nicht verzeichnet werden.
In allen vier Sprachen ist Gnade/ łaska/ milosť/ milost ein wichtiger religiöser Begriff. Im Christentum bezeichnet er eine Eigenschaft Gottes, manchmal auch Heiliger, vgl. die häufige Kollokation dt. göttliche Gnade/ die Gnade Gottes, poln. łaska Boża, slow. milosť Božia, tschech. Boží milost. Dem lateinischen gratia entsprechend bezeichnen Gnade/ łaska/ milosť/ milost die Liebe und das Wohlwollen Gottes gegenüber den Menschen. In der Perspektive des Glaubens hat man der Gnade Gottes alles Gute in seinem Leben zu verdanken und man kann aufgrund von ihr auf Vergebung der Sünden, ewiges Leben, Heilung u. Ä. hoffen. In religiösen Texten berufen sich Gläubige häufig auf die Gnade Gottes – sie bitten um sie, bezeugen ihren Glauben an sie usw. Vgl. poln. Proszę o wszelkie łaski dla dzieci studiujących. ‘Ich bitte um alle Gnaden für die studierenden Kinder.’, dt. Wenn man Hoffnung mit sich trägt, fühlt man sich sicherer. Dieses Hoffen kann man durch die Gnade und die Liebe Gottes erhalten., slow. Do budúcna Boh dal hojnosť milostí, veľa šťastia, radostí. ‘Gott gebe [dir] für die Zukunft eine Gnadenfülle, viel Glück und Freude.’, tschech. A to je ona milost víry, která veškeré naše myšlení a konání usměrňuje. ‘Und das ist die Gnade des Glaubens, die unserem ganzen Denken und Tun die Richtung gibt.’
Im quasireligiösen Profil wird als Gnade/ łaska/ milosť/ milost eine besondere Gabe, ein Talent, ein glücklicher Umstand in jemandes Leben u. Ä. bezeichnet. Es handelt sich um eine Bedeutungsspezifizierung des religiösen Profils (‘Gabe als Folge der göttlichen Gnade’). Der Sprecher kann durch solche Aussagen zum Ausdruck bringen, dass er etwas als göttliche Gabe ansieht, die Bezugnahme auf Gott, höhere Mächte oder das Schicksal kann aber auch nur latent sein. Das Profil bewegt sich somit an der Grenze zwischen einer religiösen und einer säkularen Sprache, es kann, muss aber nicht religiöses Bekennen signalisieren. Typische thematische Zusammenhänge bilden Texte über eine künstlerische Begabung, über ein besonderes persönliches Charisma, über jemandes Fähigkeit andere zu heilen u. a. Vgl. slow. Bol to farár plný milosti, elánu, lásky, porozumenia a trpezlivosti. ‘Er war ein mit Gnade, Elan, Liebe, Verständnis und Geduld erfüllter Pfarrer.’, dt. Dieser Arzt hat eine Gnade von Gott., tschech. Vystihuje to jakousi milost, díky níž se přežije i kritická situace. ‘Es beschreibt eine gewisse Gnade, dank der man auch eine kritische Situation überlebt.’, poln. Miłość jest łaską i nie każdemu jest dana. ‘Die Liebe ist eine Gnade, die nicht jedem gewährt wird.’
Im Amnestieprofil bezeichnen Gnade/ łaska/ milosť/ milost den Erlass oder die Milderung einer Strafe. Die Möglichkeit, eine rechtskräftig verhängte Strafe zu ermäßigen, umzuwandeln, auszusetzen oder ganz zu erlassen wurde früher den Herrschern (Königen, Fürsten, Bischöfen usw.) vorenthalten, heutzutage verfügen über diese Befugnis meistens die Staatsoberhäupter. Typische Kollokationen in diesem Profil sind dt. um Gnade bitten, um Gnade flehen/ poln. prosić o łaskę/ slow. žiadať si milosť/ tschech. žádat o milost sowie slow. udeliť niekomu milosť/ tschech. udělit někomu milost (entspricht dem dt. begnadigen / poln. ułaskawić bzw. slow. omilostiť und tschech. omilostnit).
Im Mitleids- und paternalistischen Profil implizieren Gnade/ łaska/ milosť/ milost gesellschaftlich oder situativ gegebene zwischenmenschliche Hierarchieverhältnisse, in denen der eine schwach, abhängig oder unbeholfen, der andere dafür (überheblich) wohlwollend, nachsichtig oder wohltuend erscheint. Während im religiösen Profil Gnade/ łaska/ milosť/ milost positiv mit der Milde, Liebe und Freigebigkeit Gottes konnotiert werden, sind die Assoziationen im Mitleids- und parternalistischen Profil überwiegend negativ (z. B. Überheblichkeit und Hochmut von jemandem, auf den man angewiesen ist).
Im Mitleidsprofil bedeuten Gnade/ łaska/ milosť/ milost so viel wie ‘Mitleid, Rücksicht, Nachsicht’. Typischerweise werden Situationen dargestellt, in denen jemand jemandem anderen physisch, emotional oder sozial unterliegt und auf die Nachsicht des Stärkeren appelliert, um die Vergebung seiner Vergehen und Gewährung neuer Chancen bittet u. Ä. Vgl. dt. Der Junge habe um Gnade gefleht, als ihm die Täter gemeinsam ein Elektrokabel um den Hals schlangen und ihn erdrosselten., tschech. Oněgin odjíždí do zahraničí, za několik let se v Moskvě na bálu setkal s Taťánou, prosí ji o milost, ale odmítá, Oněgin odchází .. ‘Onegin fährt ins Ausland, einige Jahre später traf er Tatjana in Moskau auf einem Ball, er bittet sie um Gnade, sie lehnt aber ab, Onegin geht weg..’, slow. rana z milosti / tschech. rána z milosti ‘über einen Schlag, mit dem man ein Tier tötet, wenn es an Krankheiten leidet und keine Aussicht mehr auf Heilung besteht, übertragen auch über die Beendigung des menschlichen Lebens, wenn man sehr gelitten hat’ (s. im Deutschen Gnadenschuss/ Gnadenstoß/ Gnadentod), oder im Tschechischen den Ausruf Milost! ‘Erbarmen!; Verzweifelter Appell auf Mitleid, wenn man getötet oder gequält werden soll; überwiegend historisch und in literarischen Texten.’
Im paternalistischen Profil bedeuten Gnade/ łaska/ milosť/ milost so viel wie ‘Gunst, Wohlwollen’. Stärker als im Mitleidsprofil werden hier soziale Hierarchien, die Angewiesenheit auf die Sympathie eines Herrschers oder Herrn u. Ä. evoziert. Weil solche Hierarchien in der modernen Welt als überholt und Menschen als prinzipiell gleichwertig gelten, signalisieren Gnade/ łaska/ milosť/ milost im paternalistischen Profil in der Regel eine kritische oder zumindest distanzierte Einstellung des Sprechers, die Aussagen sind häufig scherzhaft, hyperbolisch oder ironisch. Das paternalistische Profil wird in allen vier Sprachen vor allem durch phrasematische Wendungen realisiert. Vgl. beispielsweise dt. bei jmdm. in Gnaden stehen/ bei jmdm. in Gnaden sein, slow. byť u niekoho v milosti, poln. być w łaskach u kogoś ‘jmds. Wohlwollen genießen’; dt. jmdn./ etw. in Gnaden wieder aufnehmen, poln. przywrócić kogoś/ coś do łask, slow. vziať niekoho/ niečo na milosť, tschech. vzít někoho/ něco na milost ‘jmdm./ etwas nachsehen, eine neue Chance gewähren’; dt. von jmds. Gnaden, slow. z nečí milosti, tschech. z něčí milosti ‘aus jmds. Willen’ (z. B. slow. Nacionálny štát z milosti Hitlerovej ‘ein Nationalstaat aus Hitlers Gnaden’, dt. ein Regierungschef von Gnaden des Militärs). Im Deutschen, Tschechischen und Slowakischen wurden Gnade/ milosť/ milost früher in Ansprachen von Herrschern oder sozial höher gestellten Personen bzw. als Zeichen von Dienstbereitschaft und Respekt gegenüber jemandem verwendet (heute nur noch scherzhaft): dt. Euer Gnaden/ Ihre Gnaden/ Ihro Gnaden, slow. vaša milosť, tschech. Vaše milosti. Ähnlich auch veraltet oder ironisch dt. gnädige Frau, gnädiger Herr/ tschech. milostpán, milostpaní/ slow. milosťpán, milosťpani.
Differenzen zwischen den Sprachen ergeben sich manchmal daraus, dass eine Bedeutung mit unterschiedlichen Wortarten ausgedrückt wird. Zum Beispiel wird im paternalistischen Profil die ironische Lesart ‘als würde man jemandem ein Gefallen tun, obwohl man nur seiner Pflicht nachgeht’ im Polnischen durch das Phrasem jak z łaski (wörtlich: wie aus Gnade) ausgedrückt, im Tschechischen dagegen durch das Adverb milostivě ‘gnädig’. Vgl. poln. Panie obsługujące mało sympatyczne i pracują jak z łaski. ‘Die Frauen, die dort bedienen, sind nicht besonders sympathisch und arbeiten als würden sie einem ein Gefallen tun.’, tschech. Zdravotní sestřička zvedla po minutě milostivě sluchátko. ‘Die Arzthelferin hat nach einer Minute gnädig den Hörer abgenommen.’
Im intensivierenden Profil werden Phraseme oder Wortbildungen von Gnade zusammengefasst, in denen eine Negationskomponente vorkommt und mit denen intensivierend ein entschiedenes und rücksichtsloses Handeln charakterisiert wird. Die Bewertung der dargestellten Handlung kann auch positiv sein – als konsequent, schlagfertig, auf eine gerechte Weise kompromisslos. Das Profil scheint insbesondere für das Deutsche charakteristisch zu sein (vgl. keine Gnade zeigen, keine Gnade kennen, ohne Gnade, gnadenlos). Entsprechende Ausdrücke mit einer intensivierenden Bedeutung finden sich aber auch im Slowakischen (bez milosti ‘ohne Gnade’, nemilosrdný, nemilosrdne ‘gnadenlos’) und im Tschechischen (bez milosti ‘ohne Gnade’, nemilosrdný, nemilosrdně ‘gnadenlos’), teilweise in denselben lexikalischen Kontexten (z. B. dt. gnadenloser Preiskampf, slow. nemilosrdný boj o jeho dedičstvo ‘ein gnadenloser Kampf um sein Erbe’, tschech. nemilosrdný boj/ nemilosrdná soutěž ‘ein gnadenloser Kampf, ein gnadenloser Wettkampf; im Sport’). Im Tschechischen wird in dieser Bedeutung zum Teil das Wort slitování ‘Erbarmen’ benutzt: nemít slitování ‘keine Gnade haben’, neznat slitování ‘keine Gnade kennen’, bez slitování ‘ohne Gnade, rücksichtslos’.
Weder aus diachroner noch aus synchroner Sicht sind das Amnestie-, Mitleids-, paternalistische und intensivierende Profil als Übertragung der religiösen Bedeutung auf nicht-religiöse Sachverhalte zu deuten. Nicht die Assoziationen mit einem Gunst erweisenden Gott, sondern eher die Assoziationen mit ehemaligen sozialen Hierarchiebeziehungen wie z. B. Herrscher – Untertan und Herr – Diener/ Dienerin scheinen hier von Bedeutung zu sein. Im intensivierenden Profil wird durch die Negierung einer äußerst positiven Eigenschaft (Gnade als Milde, Gütigkeit) die Vorstellung des äußersten Gegensatzes (Härte, Schonungslosigkeit) hervorgerufen. Die Polysemie von Gnade/ łaska/ milosť/ milost ist also nicht auf die sprachliche Säkularisierung zurückzuführen. Wird jedoch der religiöse Diskurs zu einer Randerscheinung, kann die religiöse Lesart von Gnade/ łaska/ milosť/ milost im Bewusstsein der Sprechergemeinschaften in den Hintergrund treten und durch Assoziationen, die dem religiösen Verständnis von Gnade als Eigenschaft Gottes gegenläufig sind, überlagert werden. Mit Gnade könnte dann theoretisch Gott als eine herablassende Autorität oder die Angewiesenheit des Menschen auf seine unsichere Zuneigung assoziiert werden. Die sprachlichen Belege im religiösen Profil deuten bisher auf eine solche Entwicklung nicht hin, eine zunehmende Marginalisierung des religiösen Diskurses könnte sie aber nahelegen (wie z. B. bei dem Wort Demut). S. auch Kucharska-Dreiß (2011) in der Bibliographie zu Gnade.