Rachel Pafe (Berlin): Das Wunder der Liebe in den Trümmern des Krieges: Nachdenken über die Ilias mit Susan Taubes und Simone Weil

Rachel Pafe ist Schriftstellerin und Forscherin und interessiert sich für modernes jüdisches Denken und kritische Theorien der Trauer. Derzeit promoviert sie an der Goethe-Universität Frankfurt und der Université Lille.

 

Mehr Informationen gibt es auf Rachels Homepage.

In ihrer Dissertation von 1956 geht die ungarisch-amerikanische Philosophin und Schriftstellerin Susan Taubes mit der französischen Philosophin und Mystikerin Simone Weil ins Gericht. Sie beschreibt Weils Theologie eines abwesenden, ohnmächtigen Gottes, der menschliches Leid bewusst anstrebt, als sinnbildlich für den bewussten Rückzug aus praktischen Versuchen, Ungerechtigkeit zu bekämpfen und das Leiden anderer zu lindern. Doch was wie eine völlige Ablehnung Weils erscheint, insbesondere ihrer späteren, in Weils Worten “theologischen Wende” weg von ihrem früheren politischen Denken, ist komplexer. Taubes stimmt oft mit Weils grundsätzlicher Kritik an modernen Institutionen und politischen Systemen überein. Ich behaupte, dass Taubes’ Kritik an Weil zuweilen deshalb so scharf ausfällt, weil sie viele von Weils späteren extremeren und fatalistischeren Schlussfolgerungen als Verschwendung ihrer ursprünglichen Ideen und ihrem Potential ansieht. Besonders deutlich wird dies in ihrer Analyse von Weils Essay “Die Ilias oder Das Poem der Gewalt” (1945), für Taubes ein starkes Beispiel für Weils Denken an der Schwelle zu jener “theologischen Wende”. Hier werden die Eigenschaften, die später allein einem übernatürlichen Gott zugeschrieben werden, immer noch als menschliche Möglichkeiten angesehen.


Taubes legt dar, dass das Thema von Weils Essay, nämlich die geometrisch ausgewogene Ausübung von Macht und Gewalt im Kriegsepos Ilias, Weils frühes politisches Werk und ihre späteren theologischen Schriften verbindet. Dort konkretisiert sich Weils wachsender Fatalismus in Bezug auf weltliche Gewalt zu einem theologischen Prinzip. In meinem Beitrag gehe ich dem Grenzraum in Weils Essay nach, auf den Taubes hinweist: die Möglichkeit des Wunders der Liebe zwischen Freunden, Familie und geliebten Menschen als kurzzeitige Rettung vor der Zerstörung durch Gewalt und Macht. Taubes argumentiert, dass dieses menschliche Wunder der Liebe und Weils späteres Konzept der übernatürlichen Gnade eines abwesenden und ohnmächtigen Gottes für Weil “die selbe Wahrheit” oder das Mittel zur Rettung eines Teils der menschlichen Seele sind. Dennoch, so Taubes, wählt Weil, in Ermangelung einer totaleren Antwort, schließlich die “sicherere Option” der übernatürlichen Gnade. Ich behaupte, dass Weils Vorstellung vom Wunder der menschlichen Liebe zentral für Taubes’ eigene ethische Vision ist: der Ruf, sowohl die ungewisse Abwesenheit Gottes anzunehmen wie auch die kurzen Momente der Liebe zwischen Menschen, wie Licht, das die Dunkelheit für einen Moment durchbricht.

Taubes wurde am 12. Januar 1928 in Budapest, Ungarn, als Tochter säkularer jüdischer Eltern geboren und wanderte 1939 in die Vereinigten Staaten aus. In den späten Vierzigern und frühen Fünfzigern machte Taubes einen BA in Philosophie am Bryn Mawr College und studierte an der Sorbonne in Paris, wo sie auf Emmanuel Levinas, Albert Camus und Simone Pétremont traf. Im Jahr 1956 promovierte sie als erste Frau in Harvard. In der neueren Forschung über Taubes wird der Kontext ihrer philosophischen Arbeit, nämlich das erste Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg. Diese Zeit war stark geprägt von unterschiedlichen Einflüssen, wie dem Nachbenen der extremen Gewalttaten der unmittelbaren Vergangenheit, den Auswirkungen von Nietzsches Verständnis vom Tod Gottes sowie der Vermischung von Entfremdung und Hoffnung auf Erlösung. (1)


Anschließend hielt Taubes Vorlesungen an der Columbia University und am Barnard College und arbeitete von 1958 bis 1962 als Kuratorin an der Bush Collection of Religion and Culture der Columbia University. In dieser Zeit beteiligte sie sich aktiv an der New Yorker Literatur- und Theaterszene und begann, sich auf experimentellere Formen des Schreibens zu konzentrieren, und durch sie die Themen der Unterdrückung und Entfremdung zu bearbeiten, die sie schon in ihrer Dissertation behandelt hatte. Dies gipfelte in vieler Hinsicht in ihrem letzten, kürzlich wieder veröffentlichten Roman, Divorcing, vielleicht der radikalste und poetischste Ausdruck ihrer ethischen Vision. Kurz nach der Veröffentlichung von Divorcing im Jahr 1969 nahm sich Taubes das Leben.


Taubes’ Dissertation behandelt Weil in drei Abschnitten: einer Analyse ihrer frühen politischen Schriften, einer Analyse dessen, was sie Weils spätere “theologische Wende” nennt, und einer Darstellung einer ganz eigenen ethischen Vision, die sich sowohl auf Weil stützt als sich auch von ihr stark unterscheidet. Ein Kernpunkt von Taubes’ Auseinandersetzung ist, dass Weil auf ihrer Suche nach einer Lösung für menschliches Leid zunächst in ihren politischen Schriften marxistische und syndikalistische Ideen aufgreift, aber in ihren theologischen Schriften eine defätistische Haltung einnimmt. Taubes behauptet, dass Weils Hinwendung zur Theologie einen letzten Versuch darstellt, eine absolute Erklärung für das Leid in der Welt zu finden, indem sie Gewalt und Unterdrückung an übernatürliche Ursachen bindet. Als Reaktion auf das Leiden anderer, so Taubes, suchte Weil nach einer absoluten Antwort auf “das Schweigen Gottes, indem sie ein weltliches Dilemma so radikalisiert, dass es eine theologische Lösung verlangt”. (2)

Study for the Figure of the Iliad in the Apotheosis of Homer

Für Weil hat ein abwesender und ohnmächtiger Gott die Welt der Gewalt und des Leidens verlassen, was die menschliche Beziehung zu Gott zu einer macht, in der “die göttliche Liebe keine Belebung der Seele ist, sondern eine Art Tod”. (3) In diesem Schema kann der Mensch nicht auf die gewalttätige Welt einwirken, die Gott erschaffen und dann verlassen hat; die einzige Möglichkeit, die Gnade dieses Gottes zu erlangen, besteht darin, das unglaubliche Leid in der Welt anzunehmen und sich auf einen Prozess der „Dekreation“ einzulassen, also das eigene leibliche Selbst aus der Welt zu entfernen.


Im letzten Kapitel des ersten Teils ihrer Dissertation, “Vom Sozialismus zum Übernatürlichen”, arbeitet Taubes Weils Essay “Die Ilias, oder das Poem der Gewalt” (1945) als stärkstes Beispiel für die Grundlage von Weils theologischer Wende heraus, neben ihren Überlegungen zu in Marseille zwischen 1941 und 1942 geschriebenen Texten. Sie behauptet, dass dieser Aufsatz zwar noch nicht die explizit religiöse Terminologie verwendet, die Weil in ihren späteren Schriften zu theologischen Fragen benutzt, aber ähnliche Themen behandelt. Dabei geht es insbesondere um die entfremdende Kraft des menschlichen Leidens im Krieg und darum, wie verschiedene Kräfte der Unterdrückung, von Gewalt im Krieg bis zur erdrückenden Fabrikarbeit, die Fähigkeit haben, Menschen zu Objekten zu degradieren. Bemerkenswert ist, dass Weil in diesem Aufsatz die griechischen religiösen Praktiken nicht erwähnt, aber eine Parallele zu den Evangelien zieht, indem sie erklärt, dass diese das letzte Beispiel des griechischen Genius sind, weil sie die Menschen ermahnen, vor allem das göttliche Gute zu suchen und weil in der Gestalt Christi “das menschliche Leiden offengelegt wird” (1945: 34). Taubes argumentiert, dass Weil in “The Iliad, or The Poem of Force” (Die Ilias oder das Gedicht der Macht) auf fatalistische Weise auf die Zerstörungen der Macht reagiert, die sich später zu einem theologischen Prinzip herauskristallisieren. In der “Ilias” erwähnt Weil jedoch das Übernatürliche nicht. Sie:

 

gewinnt mit anhaltender Klarheit tragische Erkenntnis, als ob ihr Geist ein Gleichgewicht zwischen der verzweifelten Suche nach einer Lösung für soziale Probleme und dem Bedürfnis einer religiösen Erklärung menschlichen Leides gefunden hätte und das menschliche Leid für sich selbst sprechen lassen könnte, ohne nach Lösungen oder Erklärungen zu suchen. (4)


In “Die Ilias oder das Poem der Gewalt” analysiert Weil Homers Ilias, ein episches Gedicht, das bekanntlich vom letzten Jahr des zehnjährigen Trojanischen Krieges erzählt, in dem die griechischen Reiche gegen Troja kämpfen, um Helena zurückzuholen, die Frau von Melelaus, dem König von Sparta, die vom trojanischen Prinzen Paris gefangen genommen wurde. Der Literaturkritiker Christopher Benfey stellt fest, dass das Auffälligste an diesem Essay die Art und Weise ist, in der Weil Homers Gedicht neu interpretiert und übersetzt, um es deutlich gewalttätiger zu machen als das Original. (5) Dieser Schwerpunkt wird in mehreren Beispielen von Weils spezieller Übersetzung deutlich, insbesondere in einer Passage, in der Achilles Priamos wegstößt, als dieser um Mitleid bittet. Während Weils Version diese Geste als ein weiteres Beispiel für alles verschlingende Gewalt und die Reduzierung von Menschen auf den Status von Objekten darstellt, enthalten andere Übersetzungen wie die von Robert Fagle Wörter wie “gentle” oder “sanft”, das diesen Moment von einem der Erniedrigung zu einem der empathischen Verbindung macht.

Benfey unterstreicht, dass “es nicht darum geht, ob Weil Homer falsch liest, sondern warum sie es tut… Weil hat aus dem komplizierten Netz von Homers Erzählung zwei scharf gezeichnete ‘Katastrophen des Krieges’ herausgearbeitet.” (6) Taubes unterstreicht ebenfalls das übergreifende Thema von Weils Aufsatz: die geometrische oder gleichmäßige Anwendung von brutaler Gewalt, “Gewalt, die der Mensch anwendet, Gewalt, die den Menschen versklavt, Gewalt, vor der das Fleisch des Menschen zurückweicht”. (7) In diesem Zusammenhang argumentiert Taubes, dass es in Weils späteren theologischen Schriften um das Gleichgewicht der Kräfte von natürlicher Schwere und übernatürlicher Gnade oder um die Gewalt der immanenten Welt im Gegensatz zur höchsten Transzendenz der göttlichen Liebe geht, so wie es in ihrem Ilias-Essay um das Gleichgewicht von Krieg und Frieden geht. Weil hebt die Ilias als ein herausragendes Beispiel für die Gleichheit von Kraft und Gewalt hervor, in der “die Bitternis, die aus der Zärtlichkeit folgt und die sich über das ganze Menschengeschlecht ausbreitet, so unvoreingenommen wie das Sonnenlicht” sei, im Kontext einer Kraft, die so mächtig ist, “dass sie, wenn sie bis zum Äußersten ausgeübt wird, den Menschen im wahrsten Sinne des Wortes in ein Ding verwandelt: Sie macht einen Leichnam aus ihm”. (8)


Weil beschreibt die gleichmäßige Anwendung dieser Macht in der Ilias, welche die Menschlichkeit von Opfern und Siegern gleichermaßen vernichtet. Weil betont, dass “das Schicksal gerade durch seine Blindheit eine Art von Gerechtigkeit” herstellt, und zwar durch eine “geometrische Strenge”, die in der Macht der Gewalt wurzelt, alle auszulöschen, die sie berühren. (9) Taubes betont jedoch, dass Weil Ausnahmen von dieser gleichen und alles vernichtenden Gewalt erwähnt, nämlich Momente, die sie als “Gnade” bezeichnet, oder Momente, in denen es dem Menschen möglich ist, die Seele vor der totalen Vernichtung durch die Gewalt zu retten und sich dagegen zu wehren, ein Objekt zu werden. Sie argumentiert so:

 

Wichtig ist, dass diese Gnade nicht dazu dient, die irdischen Bindungen des Menschen zu kappen, sondern im Gegenteil von einer Zärtlichkeit für all das ausgeht, was der Mensch in seiner irdischen Stadt hegt. Die Momente der Gnade in diesem Gedicht der Gewalt und des Grauens sind “jene kurzen himmlischen Augenblicke, in denen der Mensch seine Seele besitzt”. Die Liebe zwischen Mann und Frau, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Freunden, Gesten der Gastfreundschaft sind Beispiele für solche Momente der Gnade, die, so selten sie in der Ilias auch sein mögen, “ausreichen, um uns mit scharfem Bedauern spüren zu lassen, was es ist, das die Gewalt getötet hat und wieder töten wird”. (10)


Diese Passage ist deshalb von Bedeutung, weil Taubes in späteren Kapiteln viel Energie darauf verwendet, Weils spätere Theologie als die eines ohnmächtigen und abwesenden Gottes zu beschreiben, der unendliches menschliches Leid will. Weil betont das Element der menschlichen Wahl und Entscheidungskraft, sich in den bereits erwähnten Prozess der Dekreation zu begeben, als einziges Mittel der menschlichen Entscheidung in einer Welt, die ansonsten durch die grausame Hand des Schicksals determiniert ist. Indem er diesen Prozess annimmt, kann der Mensch vermeiden, von den ihn umgebenden Kräften der endlosen Gewalt auf ein bloßes Objekt reduziert zu werden. Auf diese Weise ist er in der Lage, den winzigen Gottesfunken in seiner Seele vor der weltlichen Zerstörung zu bewahren und ihn zur Wiedervereinigung mit dem transzendenten, übernatürlichen Gott zu führen.

Carole Raddato (CC-BY-NC-SA)

Doch Weils Ilias-Essay, der kurz vor ihrer Hinwendung zu solchen theologischen Überlegungen geschrieben wurde, erwähnt das Übernatürliche nicht und scheint die menschliche Liebe und Gemeinschaft als zu einem solchen Akt der Seelenrettung fähig darzustellen. Taubes betont: “Die in der Ilias dargestellte Welt des Krieges spiegelt also, wenn auch nur in einem winzigen Ausmaß, das Licht einer anderen Welt wider: ‘die ferne, zerbrechliche, bewegende Welt des Friedens, der Familie; die Welt, in der jeder Mensch jenen, die um ihn sind, mehr wert ist als alles andere.'” (11) Weil ist sich also einer Ebene der Transzendenz bewusst, die Menschen erreichbar ist, ein Bewusstsein, das Taubes als Parallele zu ihrem Einsatz für übernatürliche Dimensionen sieht:

 

Vielleicht bezeichnete das “Übernatürliche”, die Wirklichkeit “außerhalb dieser Welt” und der Geist der Gnade, der Gerechtigkeit und der Liebe, die, obwohl sie im Kriegsgedicht kaum Platz haben, “dennoch das Werk in ihr Licht tauchen, ohne jemals selbst spürbar zu werden, außer als eine Art Akzent”, für Simone Weil letztlich dieselbe Wahrheit. Und doch bestätigen die Überlegungen, die von ihrer eigenen religiösen Position ausgingen, den Verdacht, dass das Übernatürliche, wenn es das Bild der verlassenen Wirklichkeit der menschlichen Seele bewahrt, vielleicht noch “kategorischer” als die Poesie dazu neigt, im Gegensatz zur Poesie, die Schätze der Seele für sich zu rauben und sie nie wieder in die alltägliche Wirklichkeit des Menschen zurückzulassen, so dass die Welt ihren Kriegen überlassen wird und die Gnade gedeiht, indem sie den Menschen seines irdischen Gewandes beraubt und ihn des Teils seiner Seele beraubt, der an die Erde gebunden ist. (12)

 

Taubes behauptet, dass Weil trotz ihrer Anerkennung der Möglichkeiten menschlicher gemeinschaftlicher Liebe und Verbindung letztendlich feststellte, dass sich die übernatürliche Wahrheit als der sicherere und umfassendere Beschützer der menschlichen Seele erweist. Dies ist der Kernpunkt von Taubes’ Argument, nämlich dass der Preis für die Hinwendung zum sicheren Übernatürlichen zu hoch ist, weil dies die Entfernung der Seele des Menschen von der immanenten Welt und der Realität erfordert. Wie sie im vorigen Abschnitt festgestellt hat, neigt das Übernatürliche “im Gegensatz zur Poesie, die Schätze der Seele für sich zu rauben und sie nie wieder in die alltägliche Wirklichkeit des Menschen zurückzulassen, so dass die Welt ihren Kriegen überlassen wird und die Gnade gedeiht, indem sie den Menschen seines irdischen Gewandes beraubt.” Weils Wendung, so Taubes, hat den Preis, dass die realen Kämpfe in der Welt und jede Auseinandersetzung mit der Realität aufgegeben werden.

 

An verschiedenen anderen Stellen ihrer Dissertation kehrt Taubes zu der Frage zurück, wie man sich mit der Realität der Gewalt auseinandersetzen kann, indem sie weiter diese Idee der zwischenmenschlichen Momente der Liebe untersucht, wie sie zuerst in ihrer Analyse von Weils Ilias-Aufsatz beschrieben wurde. Taubes interessiert sich für diesen Aufsatz gerade deshalb, weil er der Abgrund zu sein scheint, an dem Weil verweilt, bevor sie ihre Hoffnung auf die immanente Welt und die menschlichen Verbindungen und Gemeinschaften in ihr aufgibt. Die Schlussfolgerung ihrer Dissertation, die Taubes’ unfertige, aber eindrucksvolle ethische Vision enthält, besteht darin, dass die Grenze zwischen der oben erwähnten Idee der menschlichen Liebe und übernatürlicher Gnade aufgelöst wird.

 

Taubes beklagt, dass trotz des Potentials von Weils Denken wie dem gewiesenen Weg zu einer neuen Art von Heiligkeit, die aus der Abwesenheit von Gott entsteht, sie nicht in der Lage ist, solche Implikationen zu akzeptieren, weil sie sich auf die Idee einer göttlichen Macht verlässt. (13) Das traditionelle Modell der Heiligkeit, stellt Taubes fest, beruht auf dem Modell de*des Heiligen, die*der mit spirituellen Mühsal konfrontiert ist, aber nie ihren*seinen Glauben an Gott in Frage stellt. Sie stellt die*den neue*n Heilige*n als jemanden vor, die*der sich solchen Herausforderungen in Abwesenheit Gottes stellt und eine Form der Spiritualität entwickelt, die genau auf dieser Abwesenheit beruht. (14) Und trotzdem:

 

Simone Weil schreckt davor zurück, die radikalen Konsequenzen aus der Göttlichkeit der Seele in Abwesenheit Gottes zu ziehen, und beseitigt den Skandal der Überlegenheit des Menschen über “Gott” (d.h. blinde Kraft und Zwang), indem sie den theistischen Rahmen wiederherstellt. Die Metapher des abwesenden Gottes, die zu einem Zeitpunkt lediglich das Gerüst für einen trans-theistischen Spiritualismus bildet, ist auf einem soliden theologischen Gebäude erbaut. (15)

 

In diesem Zusammenhang sieht Taubes die Macht des abwesenden Gottes eher in seinem metaphorischen Potenzial als in einer tatsächlichen göttlichen Präsenz begründet. Dieser Akt ermöglicht es, in der Vorstellung von der “Göttlichkeit der Seele in der Abwesenheit Gottes” zu verweilen und gleichzeitig einen theistischen Rahmen abzulehnen. (16) Eine solche negative theologische Ablehnung verleiht dem Menschen eine spirituelle Energie, die nicht an eine transzendente göttliche Macht gebunden ist. Darauf aufbauend behauptet Taubes, dass Weils Bemühungen, Gott als Quelle des absolut Guten zu akzeptieren, daran scheitern, dass es in der Welt keine Beispiele für seine Liebe gibt, so dass Weil gezwungen ist, zu menschlichen Liebesakten zurückzukehren:

 

Obwohl der Gott der Theologie von Simone Weil “per definitionem gut” ist, muss sie sich ständig auf menschliche Taten der übernatürlichen Liebe, Gerechtigkeit und Demut als die einzigen sichtbaren Manifestationen des Guten in der Welt berufen. Im Gegensatz dazu manifestiert sich die Güte Gottes in ihrer Abwesenheit in der Welt, also durch das Böse. (17)

 

 

 

 

Three scenes of the Iliad, Atelier Cuypers-Stoltzenberg (1852–1947)

So beschreibt Taubes in der obigen Passage die menschliche Liebe als “übernatürlich” und betont damit ihr Modell der Heiligkeit, in dem der Mensch in Abwesenheit Gottes göttlich wird. (18) Diese Liebe steht neben der Gerechtigkeit und der Demut als weitere heilige Tugenden, die mit der “Abwesenheit” und dem “Bösen” Gottes kontrastiert werden. Die Dissonanz, keine Beispiele für das in der Welt manifestierte Gute Gottes zu finden, so Taubes, führt Weil zu einer paradoxen Position, in der sie den Glauben an Gottes Intervention in das menschliche Leben ablehnt und in dieser radikalen Ungewissheit schwelgt, dieser Haltung aber durch ihre absolute Gewissheit einer abwesenden göttlichen Präsenz widerspricht. Taubes verweist auf ihr bereits erwähntes Argument, dass die von Weil in der Ilias beschriebene menschliche Liebe und ihr späterer Begriff der Gnade ein und dasselbe sind, und schlägt vor, dass die Akzeptanz dieser Ungewissheit dazu führt, dass die Liebe als Gnade in den Händen des Menschen zurückgewonnen wird. Sie “erlaubt es dem menschlichen Leid, für sich selbst zu sprechen, ohne nach Lösungen oder Erklärungen zu suchen”, seien sie religiöser oder anderer Art.

 

In diesem Zusammenhang behauptet Taubes, dass “im ‘Tod Gottes’ die messianische Vision des emanzipierten, spirituellen Menschen, der aus Gnade lebt, jenseits von Gut und Böse, in einer neuen Form wiedergeboren wurde”. (19) So schließt sie ihre Dissertation mit einem eindringlichen Appell zum Potenzial der Offenbarung der Abwesenheit Gottes: die Vision einer menschlichen Spiritualität, die die theistische Dichotomie von Gut und Böse zu transzendieren vermag und in der Lage ist, Liebe und Gnade als immanente Tugenden zurückzufordern, die auf eine ständige, unvollkommene Suche nach weltlicher Gerechtigkeit ausgerichtet sind.

Fußnoten:

 

1. Zum Thema Susan Taubes’ “negative theology”: Sigrid Weigel. “Between the Philosophy of Religion and Cultural History: Susan Taubes on the Birth of Tragedy and the Negative Theology of Modernity.” Telos 150 (2010): 115-135. http://journal.telospress.com/content/2010/150/115
2. Taubes, Susan. The Absent God: A Study of Simone Weil. Unveröffentlichte Dissertation an der Harvard University, 1956, 140.

3. Ibid, 241.

4. Ibid, 154.

5. Weil, Simone and Rachel Bespaloff. War and the Iliad. Übersetzt von Mary McCarthy. New York: New York Review of Books, 2005.
6. Ibid, xv.

7. Weil, Simone. The Iliad or the Poem of Force, 3.

8. Ibid, 3.

9. Ibid, 13.
10. Taubes, Susan. The Absent God: A Study of Simone Weil, pp. 155-156.

11. Ibid, 156.

12. Ibid. 157.

13. Zum Thema “Simone Weil as a new kind of saint”: Eric Tomlin. Simone Weil. New Haven, Conn.: Yale University Press, 1954.

14. Zum Thema Susan und Jacob Taubes’ “negative theology”: Pareigis, Christina. “Searching for the Absent God: Susan Taubes’ Negative Theology.” Telos 150, 97-110 (2020). http://journal.telospress.com/content/2010/150/97.abstract.

15. Taubes, Susan. The Absent God: A Study of Simone Weil, 378.

16. Zum Thema Susan Taubes’ Kritik an Weils “mystical atheism”: Elliot Wolfson, The Philosophical Pathos of Susan Taubes (Stanford: Stanford University Press, 2023).

18. Taubes, Susan. The Absent God: A Study of Simone Weil, 373.

19. Zum Thema Gnostizismus: Howard, Mimi and Rachel Pafe. “Selves Amidst the Blushing Dead: The Task of Reclamation in Susan Taubes’ Divorcing.” R. Pafe (Ed.) Reading Scholem in Constellation. Berlin: Colorama Press and PseudoPress, 2020) und meine unveröffentlichte MA-Thesis, Susan Taubes and the Absent God: On the Critique of Religious Tyranny and an Ethics of Mourning (Universität Potsdam, 2021). Epstein, Deborah. “Gnosis und Dialektik bei Susan Taubes”. Geschichtsphilosophie und Eschatologie: Perspektiven nach Jacob Taubes. Münster: Lit Verlag, 2024.

20. Taubes, Susan. The Absent God: A Study of Simone Weil, 391.