Das Wissen der Literatur

Gerade die Literaturwissenschaften haben in den letzten Jahrzehnten von einem Forschungszusammenhang wesentliche methodische und sachliche Impulse erhalten, der die historischen Wandlungsprozesse des Wissens zum Gegenstand hat. Als elementare Ressource, die an der Reproduktion von Kulturen und Gesellschaften wesentlichen Anteil hat, erschöpft sich ›Wissen‹ nicht in den Erträgen der Wissenschaften, sondern umfasst Kenntnisse und Verfahren, die auf verschiedensten Wegen erworben werden: durch Mitteilung, Erfahrung oder Lernprozesse aller Art. Die Verschränkung von Wissen und Kultur verweist auf ein bewegliches Ensemble aus symbolischen Ordnungen, Techniken, Technologien und Strategien, die das Verhältnis von Gesellschaften zu sich selbst, zu ihrer Geschichte und zu jeweils anderen Gesellschaftsformationen bestimmen. Als Reservoir an Denk-, Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten bildet ›Wissen‹ einen ebenso festen wie veränderlichen Bestand; seine Tradierung unterliegt zugleich permanenten Korrekturen und Verwerfungen. Dabei lässt sich ›Wissen‹ als ein Feld beschreiben, das sich nicht nur durch die Gegenstände und Referenzbereiche kultureller Verständigung strukturiert, sondern auch durch Regeln und Verfahrensweisen der Wissensproduktion – und nicht zuletzt durch Kontroversen um die Relevanz, Funktion und Gewichtung von Wissensobjekten.

Den Literaturwissenschaften stellt sich die Aufgabe, literarische Bezugnahmen auf Diskurse und Wissensfelder zu interpretieren, die mit wissenschafts- und technikhistorischen Entwicklungen, aber auch mit sozialen und kulturellen Praktiken sowie mit ästhetischen und darstellungslogischen Verfahren verknüpft sind. Es eröffnet sich ein Arbeitsfeld mit vier Themenkomplexen.


I

Vor dem Hintergrund der Bezugnahmen von Literatur auf juristische, politische, ökonomische oder theologische Diskurse ebenso wie der Konstellationen, in denen literarische Texte verschiedene Spielarten naturwissenschaftlichen Wissens – von der Naturgeschichte bis zu den Lebenswissenschaften, von medizinischen Kenntnissen bis zur Experimentalkultur – integrieren, lassen sich markante literaturhistorische Zäsuren mit spezifischen Wissenskonjunkturen verknüpfen: Die Ausprägung moderner Erzählformen am Leitfaden von Psychologie, Psychopathologie, Psychoanalyse oder Ethnologie wäre ein prominentes Beispiel dafür. Dabei geht es keinesfalls nur um eine literarische Gestaltung von Themen und Motiven aus diversen Wissensgebieten; vielmehr lässt sich hier von einer ›Poetik des Wissens‹ in mindestens zweifacher Hinsicht sprechen: Einerseits stellt sich die Frage, wie unterschiedliche Gattungsformen – etwa Reiseberichte und historische Romane, Utopien und Science fiction, Autobiographie und Protokoll, Feuilleton und Reportage – unmittelbar mit besonderen Wissenstypen korrelieren und an der Hervorbringung und Formierung entsprechender Kenntnisse beteiligt sind. Andererseits lässt sich beobachten, wie poetische oder ästhetische Elemente und Qualitäten – z.B. Erzählweise und Perspektive, Tropen und Ekphrasis, aber auch etwa Gestalt, Anschaulichkeit und Evidenz – selbst in disziplinären Wissensordnungen wirksam werden und dort performative, persuasive oder demonstrative Kraft gewinnen. Im Zentrum stehen hier also die Korrespondenzen zwischen literarischen Darstellungsweisen und Wissensformen sowie beider historische Transformationen.

II

Vom ›Wissen der Literatur‹ lässt sich in dem spezifischen Sinne sprechen, dass sie unterschiedliche Wissensformen speichert, bearbeitet, kommuniziert und zirkulieren lässt. Das betrifft die Funktion von Literatur bei der Ausbildung von Tradition, von Geschichts- und Überlieferungswissen, bei der Formierung von Autorschaftskonzepten und Werkidolen, aber auch bei der Durchsetzung von bestimmten Verhaltenscodes, Individualisierungspraktiken und Autoritätsvorstellungen. Von der zentralen Rolle literarischer Texte für die Kodierung historischer Erfahrung in den Diltheyschen Geisteswissenschaften bis zu den Korrelationen, die man zwischen Textstrukturen und Subjektivierungsweisen feststellen wollte, reicht eine Fragestellung, die sich auf den Status von Literatur in den Prozessen sozialer und kultureller Selbstverständigung bezieht. Dabei kommt die Konstruktion historiographischer Modelle ebenso in den Blick wie etwa die Rolle, die literarische Formen in der Durchdringung von Alltagswissen, pädagogischer und politischer Ordnungen oder in der Popularisierung von Wissenschaften spielen.

III

Schrift- und Buchkultur, ältere und neue Medien sowie digitale Technologien umschließen ein Wissen, das unmittelbaren Anteil an der Ausbildung literarischer Formen, an der Prägung literarischer ›Aufschreibesysteme‹ sowie an der Zirkulation und Verbreitung von Literatur haben. Dazu gehören auch institutionelle Formate unterschiedlicher Art und Zugänglichkeit: Archive, Bibliotheken und Speichertechniken, diverse Bildungsanstalten mitsamt ihrer Vernetzung oder Segregation, informelle Zirkel, gelehrte Gesellschaften oder Akademien, aber auch Massenmedien, pädagogische Praktiken und elementare Kulturtechniken wie Schreiben und Lesen bestimmen den Ort und die Stellung von Literatur in den Prozeduren kultureller Kommunikation. Bis hin zur Ausbildung eines literarischen Markts geht es hier also um ein Wissen von jenen Dispositiven und Operationen, die den literarischen Prozess bedingen und strukturieren. Damit stellt sich die Frage nach den medialen und institutionellen Bedingungen, unter denen sich Spielarten literarischer Diskurse und ein Literatursystem überhaupt formieren.

IV

Es sind Paradigmen zu überprüfen und zu diskutieren, die grundlegende Aufschlüsse über die Problemkonstellation ›Literatur und Wissen‹ zu geben vermögen. Die Aktualität wissenssoziologischer Fragen rückt dabei ebenso in den Blick wie etwa die Bedeutung, die Cassirers »Philosophie der symbolischen Formen« für eine kulturwissenschaftliche Sondierung historischer Wissensformen weiterhin besitzt. Spätestens seit den 1980er Jahren liegen wesentliche Spieleinsätze der literaturwissenschaftlichen Methodendiskussion in der Frage nach dem Verhältnis von Wissen und poetischer Form: Diskursanalyse und Dekonstruktion, sciences studies und historische Epistemologie, Metaphorologie und historische Semantik, System- und Medientheorien oder die Überlegungen im Umkreis der ›Meta-History‹ haben die literatur- und textwissenschaftliche Erschließung epistemischer Felder ebenso angeregt wie die Bezugnahme auf kognitionswissenschaftliche Forschungen oder Positionen der analytischen Philosophie. Wenn sich mit der Frage nach den Spezifika literarischer Kommunikation zwangsläufig auch die nach der Ausdifferenzierung verschiedener Wissenskulturen stellt, so kann zugleich die Frage nach dem Wissen der Philologien, mithin nach der Geschichte der geistes- und literaturwissenschaftlichen Disziplinen selbst nicht ignoriert werden; eine Analyse historischer Wissensformen wird sich auch der kritischen Reflexion von Geschichte, Funktion und Relevanz der Geisteswissenschaften stellen müssen. Im Zentrum des Promotionsprogramms steht somit nicht zuletzt die Frage, unter welchen methodischen und theoretischen Vorgaben sich eine konsequente und interdisziplinäre Ausweitung des literaturwissenschaftlichen Arbeitsfelds betreiben und rechtfertigen lässt.

« zurück zum Seitenanfang