Marcus Steinweg (Berlin): “Notizen zu Simone Weil”

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Marcus

is a German philosopher based in Berlin and was professor for Art and Theory at the Academy of Fine Arts in Karlsruhe. His speciality is working at the intersection of art and philosophy. He is a sought-after speaker and a prolific writer, continuously publishing his books and texts at Merve, Matthes & Seitz, and the MIT Press.

Leseschlüssel

Die hier gelisteten – teils veröffentlichten, teils unveröffentlichten – Notizen von Marcus Steinweg beziehen sich allesamt auf Simone Weil. Die Liste ist offen und wird schrittweise durch neue Notizen erweitert.

RIGORISMUS

An Simone Weil besticht ihr Rigorismus und ihre Klarheit. Noch wenn sie sich dem Alltäglichen zuwendet, geht der Vektor ins Nichts. Nie versenkt sie sich in beleidigter Sozialkunde. Militanz und Metaphysik bleiben kompatibel. Ihr Denken kompossibilisiert politischen Aktivismus mit der Bereitschaft, das Unsichtbare zu sehen. Sie läßt den Blick ins Leere seiner Herkunft laufen = gibt dem Unendlichen im Endlichen Raum. Ob man es Mystik nennt oder Religiosität, Verzweiflung oder Mathematik, Seinsverlust oder Existenzsicherung im Wort ohne Sprache, – ihr Denken hält den Kontakt zum Undenkbaren aufrecht, ohne es zu sublimieren.

APORETISCHES GEBET

Weil hat die Extase des Denkens als Offenheit für ein Nicht-Wissen beschrieben, weshalb sie mit einer Art Glaube zusammenfällt. »Man darf die Leere nicht suchen (Il ne faut pas chercher le vide)« und »soll sie aber auch nicht fliehen (Il ne faut pas non plus le fuir).« In dieser doppelten Anstrengung bewegt sich das Subjekt angesichts eines Gottes, der nicht ansichtig wird und mit der Leere kongruiert. Soll man von Mystik sprechen? Warum nicht, da doch das Mystische benennt, was seiner Benennung widersteht. Denken als Vektor auf eine Leere hin, die schon deshalb nicht gesucht werden darf, weil sie längst im Subjekt persistiert. Denken als aporetisches Gebet. Selbstberührung als Kontakt mit der Leere in mir, als Antastung eines ursprünglich schwindenden Sinns. Immense, alles überschwemmende Leere. Das Subjekt trägt sie in sich (»l’infini qui est dans l’homme«) und schwimmt in ihr. Es ist der Ozean des Nicht-Sinns, an den Weil das Denken grenzen lässt. Es geht um eine leere Treue zur Leere: »Es ist die Leere in der Empfindsamkeit, die über die Empfindsamkeit hinausträgt (C’est le vide dans la sensibilité qui porte au-delà de la sensibilité)«. Das Denken zeichnet die Spur dieser Transgression. Es ist Index der verzögerten Koinzidenz zweier Leeren. Das nähert es dem Gebet an. Doch handelt es sich um ein Beten, das ins Leere greift.

LEERE

Was die monotheistischen Religionen sich auszusprechen weigern, spuckt Lacan im Vorbeigehen als deren Wahrheit aus: Gottes Tod legitimiert den Glauben an ihn. »Just weil Gott tot und seit jeher tot ist, konnte eine Botschaft quer durch alle Glaubenserscheinungen hindurch überliefert werden, in denen er immer noch als lebendig erschien […].« Wer an lebende Götter glaubt, ist kaum gläubig. Der wahre Glaube beglaubigt die Inexistenz seines Gehalts. Glauben heißt, sich einer namenlosen Leere anvertrauen. Simone Weil wusste das und hungerte sich in den Tod.

REINHEIT

Simone Weil – Apologetin der Reinheit, wie Kafka, wie Wittgenstein (Purismus, mit dem sich Susan Sontag hasserfüllt identifiziert!). Als hätten sie den Mut zum Schmutz nicht, plappert die Doxa und versteht – wieder einmal – nichts! Bei Weil, Kafka und Wittgenstein drückt sich im “Hunger nach Reinheit” ein gesteigerter Realismus aus, von dem die Idioten, die Normalität, Beliebigkeit, Dummheit mit Realität verwechseln, nichts ahnen können. Nichts ahnen wollen. Aus vollem Wissen um die Unmöglichkeit von Reinheit treten Weil, Kafka und Wittgenstein mit anorektischer Entschiedenheit für sie ein. In Literatur und Philosophie ist das Unmögliche Maßstab. Ums Mögliche kümmern sich Leute, die Denken und Dichten unmöglich finden, „Realisten“, die ihren Tatsachenobskurantismus als „realistisch“ verkennen.

HUNGER

Bei Kafka wie bei Simone Weil gibt es eine Art anorektischer Intelligenz. Da wühlt sich jemand ins Nichts. Kafka und Weil zeigen, was Denken ist: Gieren nach dem Ding, das verrückt macht, weil man es nicht fressen kann.

ZUKUNFT

Dass es Zukunft gibt, heißt nicht, dass es morgen und übermorgen etc. weitergeht. Es heißt vielmehr, dass die Chance, dass es so nicht weitergeht, sondern anders, nicht ausgeschlossen ist. Die Zukunft ist nicht irgendwo in der Zukunft. Sie interveniert als ihr Index ins Gegenwärtige, um die politische Fantasie des Subjekts als Mittel zur Infragestellung der Gegenwartstextur zu mobilisieren. Wer ohne Zukunft ist, ist ohne Fantasie – und somit politisch neutralisiert. Heiner Müller beschreibt es als Zusammenfallen von Zukunft und Vergangenheit. und als .Besetzung mit der totalen Gegenwart.. Neben der Realität ist die Gegenwart der Herrensignifikant unserer Zeit. Sie beansprucht, die einzig relevante Dimension zu sein, indem sie das Subjekt von der Last des Vergangenen wie Künftigen befreit. Reine Gegenwart impliziert ein Erlösungsversprechen, dessen Besonderheit darin liegen soll, dass die Erlösung schon stattgefunden hat und sich in der immer breiter werdenden Gegenwart verlässlich perpetuiert. „Wir sind von der Vergangenheit erlöst, wenn wir es annehmen, Geschöpfe zu sein“, schreibt Simone Weil in soteriologischer Absicht. Man könnte ergänzend paraphrasieren, dass wir von der Zukunft erlöst sind, solange wir akzeptieren, nichts als Produkte einer absoluten Gegenwart zu sein. Im Funktionszusammenhang des Bestehenden ist jede Idee, jeder einzelne Gedanke, jede mögliche Erfahrung im Vorhinein vom Präsenzsystem absorbiert: Zukunft, die Vorstellung vom besseren oder doch anderen Leben, als Ware. Die Konsumierbarkeit der Zukunft, wie sie durch deren unmittelbar realisiertes Versprechen garantiert sein soll, löscht sie selbst. Was heute als Zukunft konsumiert wird, sind die Spuren ihrer Löschung. In der Oberflächenaffirmation feiert sich das gute Gewissen gelungener Selbsttäuschung. Wer gegenwärtig ist, glaubt man, ist zumindest nicht vergangenheitstrunken und torkelt nicht ins Reaktionäre. Zugleich soll sich mit ihr die profane Theologie der Avantgardereligionen erledigt haben, ihre Zukunftsemphase, die kaum weniger verdächtig als die Vergangenheitsanbetung sei. Wie man sieht, verbinden sich mit dem Projekt einer verabsolutierten Gegenwart die besten Absichten, was es weder zu einer gerechten Sache macht noch der kritischen Analyse entzieht.

STRANG

Bei Kafka zieht sich, wie bei Søren Kierkegaard und Simone Weil, die gesamte Existenz zu einem Strang zusammen. Sätze aus den Tagebüchern und der Korrespondenz belegen dies: »Alles, was sich nicht auf Literatur bezieht, hasse ich, es langweilt mich, Gespräche zu führen (selbst wenn sie sich auf Literatur beziehen), es langweilt mich, Besuche zu machen, Leiden und Freuden meiner Verwandten langweilen mich in die Seele hinein. Gespräche nehmen allem, was ich denke, die Wichtigkeit, den Ernst, die Wahrheit.« Und: »Alles, was nicht Literatur ist, langweilt mich und ich hasse es, denn es stört mich oder hält mich auf […]« – »Ich bin Literatur«.

INFINITESIMALKALKÜL

»Wir werden nicht mehr dasein [sic]. Aber in diesem Nichts, das an der Grenze des Guten ist, werden wir wirklicher sein als in jedem beliebigen Augenblick unseres irdischen Lebens.« In der Selbstauflösung erblickt Weil den höchsten Grad an Seinsintensität. Die Identität von Sein und Nichts ist Zielpunkt ihrer mystischen Ontologie. Sie ist mathematisch, indem sie sich dem Infinitesimalkalkül anvertraut. Es geht darum, sich der Null zu nähern, der Leere, dem Nichts. Weils Mystik impliziert Wissen ums Nichtwissbare als Gehalt des von ihr in der Form des Denkens praktizierten aporetischen Gebets. Sie nähert sich dem Schrei, von dem sie sagt, dass er unbeantwortet bleibt. Ihr Denken ist ins Antwortlose gestellt. Dabei verliert es sich nicht im Vagen. Esoterik ist ihm fremd. Es ist ein neuer Begriff von Präzision, den Weils Denken exerziert. Es ertastet die substanzlose Substanz, die man das Absolute nennt. Dass das Absolute unantastbar ist, heißt nicht, dass es über keine Präsenz verfügt. Das Subjekt schwimmt in ihm wie in der Leere. Als ihr Index tritt es vor Gott. Man kann dieses Vortreten Gebet nennen, solange man weiß, dass es sich um eine ins Nichts schnellende Dynamik handelt. Es ist aporetisch, weil es das Subjekt mit der Vergeblichkeit seiner Existenz konfrontiert.

TRAUM

Handkes Traum: »das Selbstverständliche, Beiläufige und doch Gesetzmäßige« zu erreichen. Traum gelingenden Daseins, in dem Freiheit und Notwendigkeit fusionieren. Traum, der Gravität des Lebens enthoben zu sein. Traum ebenso leichter wie alternativloser Existenz. Traum kindlicher Unbekümmertheit und Strenge. Traum der Verschmelzung von Arbeit und Spiel. Traum paradiesischer Animalität wie glückender Weltverklammerung. Traum an Blindheit grenzender Luzidität. Traum von einem Wachsein, das dem Schlaf zum Verwechseln ähnlich sieht. Traum kenotischer Selbsterfüllung. Traum unbezeugter Ohnmacht. Traum, wie Simone Weil schreibt, »Nichts« zu sein, ohne das Recht, es zu wissen.

OHNE GOTT

Man könnte meinen, Simone Weils Denken sei ein Beten ohne Gott.

BLICK INS LEERE

Der aufwärts geschleuderte Blick mancher Marienfiguren in der Renaissancemalerei lässt sich – vielleicht – mit Simone Weil so erklären: Er hat „keinen Gegenstand“. Oder: sein „Gegenstand“ ist die „Leere“ (also Gott).

EXISTENZDENKEN

Wenn es ein Wissen davon gibt, was Philosophie ist, dann kommt es aus der philosophischen Praxis. Philosophie ist Denken des Universellen (dessen, was alle angeht), für das die Denkenden mit ihrer Existenz einstehen. Sie ist mehr Existenzform als akademische Übung. Schließlich reißt das Denken den Denkenden mit sich mit. Immer steht mit seinen Fragen seine Existenz infrage. Daran ist nichts übertrieben, heroisch oder pathetisch. Es entspricht der einfachen Evidenz philosophischen Denkens, dass sie den Menschen in seiner Totalität ergreift, destabilisiert, erschüttert, aber auch leicht und fröhlich stimmen kann. Mit Spinoza weiß Deleuze und mit ihm Toni Negri, dass beatitudo zum Denken gehört: Fröhlichkeit, die zur Bejahung noch der größten Widrigkeiten animiert. Die Bereitschaft also, jenseits einfacher Gutheißung, Welt und Selbst trotz ihrer Schwierigkeit und Undurchsichtigkeit zu affirmieren. Mehdi Belhaj Kacem hat Recht, dasselbe von den Dichtern zu sagen.*  Sie alle stehen mit ihrer Existenz für ihre Buchstaben ein, weshalb sie von der „Gesellschaft“ diskreditiert werden. Immer noch? Immer noch. Oder die Philosophen und Dichter neutralisieren sich zu Funktionären des Betriebs, der Singularität nicht ertragen kann. Bevor man – allzu vorhersehbar – von einem Klischee spricht, sollte man sich vergegenwärtigen, dass Baruch de Spinoza ein Verfolgter war, Kierkegaard ebenso, Nietzsche ein Gekreuzigter oder Wahnsinniger, Walter Benjamin ein Getriebener, Simone Weil eine sich zu Tode Hungernde, um nur fünf Beispiele zu nennen. Die Serie von Dichterinnen und Dichtern, die auf Kosten ihres Lebens dichteten, ist unendlich lang. Denken wir an Gérard de Nerval, Arthur Rimbaud, Antonin Artaud, Silvia Plath, …

 

 

Mehdi Belhaj Kacem, Artaud und die Theorie des Komplotts, Berlin 2017.

RELIGIO

Bei Weil: der Appell zur Entwurzelung: „Man muss sich entwurzeln. […] Sich in der Verbannung zu Hause fühlen lernen. Verwurzelt sein in der Abwesenheit jeglicher Stätte.“*  Wie immer bei Weil geht der Vektor gen nichts. Er zeigt in die Leere, für die Gott steht. Wenn es ein Subjekt ist, das sie zu denken gibt, dann ist es eines der Leere. Es bindet sich an nichts als an sie. Das meint die lateinische religio, diese Art von Bindung, dieses entleerende Bündnis mit der Leere = mit Gott.

 

*Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, Berlin 2021, S. 46.

VORLETZTES WORT

Søren Kierkegaard, Simone Weil und Ludwig Wittgenstein verbindet, dass sie in Fühlung mit dem Abgrund sind. Alles entscheidet sich daran, den Kontakt zu ihm durch einen selbst abgründigen Glauben zu halten. Fühlung und Glaube verweisen auf das Jenseits des Begründbaren. Deshalb Abgrund: weil alles Begründbare über dem Abgrund des Unbegründbaren schwebt. Lew Schestow wiederum spricht von einer „Apotheose der Grundlosigkeit“. Die Erfahrung der Grundlosigkeit ist philosophische Erfahrung par excellence. Man kann sie Erfahrung des Unerfahrbaren nennen und doch findet sie statt. Allerdings im Modus der Unvollständigkeit. Bei Kierkegaard ist diese Unvollständigkeit als Sprung in den Glauben formalisiert. Bei Weil als Berührung der Leere, die Gott heißt. Bei Wittgenstein als Notwendigkeit, vor dem Abgrund innezuhalten: „Wo Andere weitergehen, dort bleibe ich stehen.“*  Schestow spricht von der Verzweiflung als dem vorletzten Wort. Das letzte Wort entzieht sich, da es nicht (sinnvoll) gesprochen werden kann.

 

 

Ludwig Wittgenstein, Über Gewißheit, Frankfurt a. M. 1970, S. 89.

TOPOLOGIE

Das Diesseits zum Jenseits machen, die Immanenz zur Transzendenz konvertieren, und umgekehrt = beide Ordnungen zu einer einzigen erklären, der man ohne sicheres Ortsbewusstsein angehört, ist Kafkas und Weils topologisches Problem: »Diese Welt ist die verschlossene Türe. Sie ist eine Schranke. Und zugleich ist sie der Durchgang.«

 

Simone Weil, Schwerkraft und Gnade, Berlin 2020, S. 157.

WAHRHEITSRISIKO

Existenz und Wahrheit – könnte ein Buch heißen, das den Bogen von Nietzsche zu Foucault spannt, um festzustellen, dass jede ernst zu nehmende Philosophie den Widerstreit zwischen diesen Begriffen austrägt. Austrägt, im Sinne Heideggers, also im Sinne von Aufsichnehmen, bis an die Grenze des Selbstverlusts. Dafür steht bereits der Sokrates der Apologie: für die Bereitschaft, für sein Denken mit dem Mut zum Nonkonformismus einzustehen. Nicht jeder, der sich für einen Nonkonformisten hält, ist einer. Es ist ohnehin kaum jemand einer. Und dennoch ist der bereits im Denken Platos samt seiner Insistenz auf der Infragestellung der Doxa, d.h. der zirkulierenden Meinung angelegte Nonkonformismus Index echter Philosophie. Echt nicht als dogmatischer Authentizismus, sondern als immer neu anhebende Selbstverunsicherungsdynamik für die der Denkende als erster bezahlt. Man muss bezahlen können im Denken und fürs Denken. Wer glaubt, es sei nicht so, hat kaum zu Denken begonnen. Wie erklären sich Nietzsches Invektiven anders, als durch dessen Wissen mit ihnen gegen seine Zeit aufzustehen. Sloterdijk hat von Nietzsches „Bereitschaft zum existentiellen Wahrheitsrisiko“* gesprochen. Seine Existenz belegt, wie sehr Sloterdijk damit recht hat. Natürlich ist hier der Pathosvorwurf nicht weit. Er erscheint fast geboten. Immer erfolgt er seitens derer, die im Denken nichts riskieren. Sokrates hat für sein Denken mit dem Leben bezahlt, Spinoza wurde mit einem Bannfluch versehen und aus der Synagoge gejagt, Simone Weil floh ihre Zeit in den Hungertod und Nietzsche hat als unzeitgemäßer Denker den Verstand verloren.

 

* Peter Sloterdijk, „Philologie der Existenz, Dramaturgie der Kräfte“, in: Friedrich Nietzsche, Die Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik, Nachwort, Frankfurt a. M. 1987, S. 191.

VICE VERSA

Im Intimen das Extime auszumachen ist, was Lacan Psychoanalyse nennt. Das Draußen ist drinnen, weshalb keine Innerlichkeit je zur Ruhe kommt. Sollte also die Ruhelosigkeit – das augustinische Herz oder dasjenige Rousseaus oder Hegels, Kierkegaards und Nietzsches, Simone Weils und vieler anderer – den Panikzustand des Subjekts indizieren, das angesichts des Inkommensurablen, von dem es primordial durchschossen ist, sein Außersichsein erfährt? Die Dichotomien sind unbrauchbar geworden für ein Denken, das sich weder Transzendenzglauben noch Immanenzvertrauen gewährt. Diesseits und Jenseits, Innen und Außen, Endlichkeit und Unendlichkeit konstituieren, statt ein binäres Register, die Unentscheidbarkeit seiner beiden Seiten. Das hat Derrida auch ohne Spinoza gewusst. Da läuft etwas zusammen, oder besser: Der Mix war immer schon da. Lacan betreffend heißt das: Die Unterscheidung zwischen Realität und Realem wird nicht weniger notwendig dadurch, dass sie, einmal getroffen, zwangsläufig kollabiert. Sie bleibt nur im Horizont des analytischen Verstandes plausibel. Kommt die Vernunft, das heißt das Begehren, ins Spiel, erweist sie ihre Unhaltbarkeit. Schließlich muss das Denken – nachdem es der Differenz von natura naturata und natura naturans oder Diesseits und Jenseits oder Bewusstsein und Unbewusstem etc. beigepflichtet hat –, nicht nur die Kompossibilität, sondern die Identität von Realität und Realem einsehen. Denn das Reale ist die Realität und vice versa.

SUCHERISCH

Was Weil mit Ludwig Wittgenstein verbindet, ist das Sucherische ihrer Denkbewegung. Man muss ihren suchend folgen, um an ihrem Denken teilzunehmen. Es ist ein ständiges Neuanheben, das ihren Gedankengang bestimmt wie aufs Unbestimmbare ausgerichtet sein lässt. Als präzisierte sie die Leere, ohne sie zu mindern = ohne ihr Gewalt anzutun.

ANOREKTISCH

Den Gewichtsverlust postmetaphysischen Denkens macht Simone Weil durch anorektische Mystik wett.

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