Was ist religiöse Sprache?
1.Religion und Glaube
2.Heilige vs. profane Sprache(n)
3.Religiöse Diskurse
4.Religiöse Lexik
I.Literaturauswahl
II.Anmerkungen
1. Religion und Glaube
Das Attribut religiös geht auf Religion zurück, die die Bezugsgröße für nachfolgende Erörterungen darstellt. Eine alle zufriedenstellende Definition von ‘Religion’ gibt es nicht. In der Forschung wurde von der Urintuition Gottes ausgegangen, die dem Menschen eigen ist (Friedrich Max Müller 1879: 477). Manche Nachschlagewerke setzen das Phänomen Religion mit Ideologie und Weltanschauung in Verbindung. Ideen, in erster Linie politische ideologische Systeme, sind es auch, woran Menschen glauben und wodurch sie sich im gesellschaftlichen Leben leiten lassen, aber ihr Geltungsbereich ist viel enger (auch wenn sie Anspruch auf Totalität erheben und quasi-religiöse Sprache bzw. Rituale anwenden, wie der Kommunismus und der Nationalsozialismus des 20. Jh.ii Vgl. Ryklin, Michail 2008: Kommunismus als Religion; Kämper, Heidrun 2009: „Quasi-religiöse Sprache am Beispiel des Nationalsozialismus“, in: U. Gerber/ R. Hoberg, Hg., Sprache und Religion, Darmstadt, 339–357.). Das deutsche Wort Weltanschauung kann dagegen als Oberbegriff sowohl für eine religiös geprägte als auch für eine nicht-religiöse Sicht auf die Welt und den Menschen in ihr verstanden werden. Die Nützlichkeit eines solchen Terminus erweist sich schon dadurch, dass er in andere Sprachen als Lehnprägung eingedrungen ist, vgl. engl. worldview, poln. światopogląd, tschech. světonázor, slowak. svetonázor. Nach 1945 wurde in den Ostblockstaaten die „wissenschaftliche Weltanschauung“ als Gegenstück zum irrationalen, angeblich rückständigen christlichen Glauben forciert, die Bezeichnung bekam somit einen ideologischen Beigeschmack.
Der Begriff ‘Religion’ kann weit oder eng verstanden werden. Im weiten Sinne ist hier der Bezug zur Transzendenz gemeint: die Überzeugung von der Existenz übernatürlicher Kräfte (Sacrum), die Einfluss auf das menschliche Dasein in der Welt (Profanum) haben und vom Menschen bestimmte Handlungen verlangen (Kult). Bei diesem Verständnis wird der Unterschied zwischen dem Mono- und Polytheismus sowie dem Prototheismus (Kult des materiellen Himmels, der sich in Gottheitskult umwandelte) aufgehoben. Die Völker, die die Naturkräfte verehrten, werden nicht mehr abwertend Heiden (lat. paganus, poln. poganin, tschech. pohan) genanntiiii Zum semantischen Umfang des Wortes poganin im mittelalterlichen Polen siehe Karpluk (1997: 109–110).. Diese Bezeichnung, die vor allem in der Missionsliteratur gebraucht wurde, umfasste alle, die außerhalb der christlichen Kirche lebten, auch die Slawen und die Balten vor der Christianisierung. Die Religionswissenschaft dagegen bedient sich des Terminus Religion auch in Bezug auf den Volksglauben der heidnischen Slawen (vgl. die Untersuchungen von K. Moszyński 1925, L. Moszyński 1992). Andererseits sprechen manche Kirchenvertreter und engagierte Publizisten vom Neo-Heidentum – es sind damit weite Kreise der westlichen Gesellschaft im „postsäkularen“ Europa gemeint. Zur Neuevangelisierung im modernen Europa hat Papst Johannes Paul II. im Jahre 1985 aufgerufen.
Von den religiösen Praktiken unterscheidet sich die Magie, eine ursprüngliche Glaubensform (als ein Bestandteil der sog. Polydoxie erfasst, vgl. Łowmiański 1979: 9), dadurch, dass bei Letzterer der Mensch denkt, selbst die Kontrolle über die schicksalsbestimmende Macht zu haben und nicht von ihr abhängig zu sein. Die Formen der Magie, die heutzutage in der Folklore und in der Umgangssprache noch spürbar sind (magische Beschwörungsformeln, die einen Zauber bannen, das Panoptikum der Dämonen, Vampire, Geister etc.iiiiii Vgl. Slupski, A. 1971: „Slavisch ‘Zauberer’, ‘Hexe’ und Verwandtes“, in: Zeitschrift für Slavische Philologie, 35, 1971, 302–320. In dem Zusammenhang sind genauso Exorzismen in der Kirche umstritten, vgl.: „Wir stehen im Feld der Magie, und nicht in jenem der Religiosität, die nie die Machtlosigkeit des Geschöpfs und die alleinige Machtfülle des Schöpfers vergessen kann.“ (Ammon et al. 1987: 84).), werden als Aberglaube eingestuft und gehören nicht zum religiösen Leben. Eine hier bevorzugte neutrale Benennung wäre quasi-religiös bzw. para-religiös. Die moderne Massenkultur baut auf solche okkultistischen und prophetischen Sehnsüchte, die durch Fantasy-Filme, Comics, Bücher, aber auch eine Flut von Wahrsagereien, Horoskopen, Esoterik, Heilpraktiken etc. gesättigt werden. Solche Phänomene prägen auch die Wortsemantik (vgl. z. B. die Lemmata → Antichrist, → Himmel, → Teufel).
Im engeren Sinne wird die Religion auf ein theistisches Transzendenzkonzept von Sanctum beschränkt (persönlicher Gott als höchstes Wesen, Jemand und nicht etwas wie z. B. eine Kraft, Energie). Die Transzendenz Gottes ist aber zugleich seine Immanenz in der Welt, weil die Göttlichkeit sich in jedem Objekt der Natur offenbaren kann (sog. Hierophanie bei M. Eliade). Die Grenze zwischen Sacrum und Profanum, wie auch zwischen Sakralisierung und Profanisierung (Säkularisierung), ist also nicht unüberwindbar. In der berühmten Religionsphänomenologie von Rudolf Otto (1917) wurde die menschliche Begegnung mit heiligen Mächten von ihrer subjektiven Seite her definiert und zwar parallel als mysterium fascinans und mysterium tremendum. Die Gottheit – eine apriorische und unerkennbare Kategorie – ist nun als Erlebnis dem Menschen gegeben und als sein antwortendes Handeln darauf: das Geheimnis fasziniert, aber es erweckt auch die Gottesfurcht. Dies führt zum sensus numinis, zum Numinosum, dem Gefühl des Vertrauens und des Schauers zugleich angesichts des Göttlichen. Auch wenn dieser psychologische Reduktionismus Ottos von den Theologen kritisiert wurde, macht er auf die subjektive Seite der Religion aufmerksam, die man als Glaube bezeichnet. Religiöse Menschen bekennen sich zur christlichen Religion als Gläubige, poln. wierzący, slowak. veriaci, tschech. věřící. (In den religiös homogenen Gesellschaften, wie in Polen, werden Gläubige mit ‘Katholiken’ gleichgesetzt.) Dem individuellen Glauben wird die institutionelle Religion gegenübergestellt, die die Kirche mit ihrer Struktur, Lehre und Organisation des Kultes verkörpert. Nicht alle religiös denkenden Menschen sehen sich als Mitglieder der Kirche. Es gibt auch solche, die sich selber als „nicht-praktizierende Gläubige“ bezeichnen (poln. wierzący, ale niepraktykujący).
2. Heilige vs. profane Sprache(n)
Die Religion, zumindest in den drei größten monotheistischen Systemen (Mosaismus, Christentum, Islam), realisiert sich in der Sprache. Man hat immer wieder versucht, den sakralen und den profanen Bereich auseinander zu halten. Als heilige Sprachen galten die Originalsprachen der Bibel: Hebräisch und Altgriechisch (in geringerem Umfang auch Aramäisch, die Sprache, die auch Jesus gesprochen hat, vgl. seine Worte am Kreuz: Eloi, Eloi, lema sabachtani ‘Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?’ – Mk 15,34), dann wichtige Übersetzungssprachen Latein („Vulgata”, d. h. ‘die Allgemeinverbreitete’, übersetzt 382–420 von Hieronymus) und noch früher Altkirchenslawisch (im Jahre 863 kamen die Slawenapostel Kyrillos und Methodios mit von ihnen übersetzten liturgischen Büchern nach Mähren). Latein als Liturgiesprache des katholischen Ritus (bis zum zweiten Vatikanischen Konzil) und Altkirchenslawisch in der orthodoxen Kirche haben zur Diglossie geführt – einer Sprachsituation mit strenger funktionaler Differenzierung zwischen einer hohen (sakralen) und einer niedrigen (profanen) Varietät. Auch Bibelübersetzungen in ethnische Sprachen der Neuzeit, die bis dato benutzt werden, weichen von dem alltäglichen Sprachgebrauch ab: das Deutsch der Martin-Luther-Bibel, das Polnisch der Jakub-Wujek-Bibel, das Tschechisch der Kralitzer Bibel, die zugleich als Vorbild für die entstehende slowakische Hochsprache galt (vgl. → Startseite).
Auch in der Gegenwart wird zwischen dem hohen und dem niedrigen Sprachregister streng unterschieden. Viele Gläubige distanzieren sich von neuen Bibelübersetzungen (wie der Jahrtausend-Bibel 1965 in Polen), bei denen sie die Patina der alten Sprache vermissen. (Ein historisches Beispiel ist die Reform des Patriarchen Nikon im Jahr 1652, die zur Spaltung in der russischen orthodoxen Kirche geführt hat: die sog. Altgläubigen haben sich der Berichtigung der kirchenslawischen Liturgie nach griechischen Drucken widersetzt.) Experimente mit Übertragungen in nicht standardisierte Dialekte (wie in Podhalanisch, 2005) werden mit Argusaugen beobachtet. Auf der anderen Seite spürt man die Unzulänglichkeit jedes menschlichen – wenn auch ausgesuchten – Idioms in der Kommunikation mit Gott. Deswegen wird neben dem Sprechen auch dem Schweigen eine wesentliche Rolle zugeschrieben: in kontemplativen Orden, während des Gottesdienstes, bei Mystikern usw. Das Schweigen ist hier nicht bloß als Pause bzw. das Fehlen von Rede zu interpretieren, sondern es stellt einen semiotischen Akt dar. Auch ein privates Gebet in der „inneren Sprache“ muss nicht voll artikuliert werden, weil Gott anders als der Mensch hört und anders antwortet. Sie sind ja ungleiche Gesprächspartneriviv Man hat sich auch wegen des Schweigens Gottes angesichts des Übels und des Leides in der Welt beklagt (was von Leibniz 1710 als das Dilemma der Theodizee dargestellt wurde).. Die Theologie versucht, die Vernunft und den Glauben, ratio und fides, in Einklang zu bringen. Rationales und emotionales Empfinden ist auch in Kulthandlungen und der Verkündigung der Kirche zu beobachten, z. B. durch hypnotische Wirkung rhythmischer Wiederholungen in Litaneien, im liturgischen Gesang, und schließlich in der Glossolalie (eine an sich sinnlose Lautproduktion, die die religiöse Ekstase steigert). Die religiöse Kommunikation bedient sich unterschiedlicher semiotischer Systeme und spricht mehrere Sinne an.
3. Religiöse Diskurse
Religiöse Sprache ist eine Sprachvarietät, die sich nicht in allen ihren Eigenschaften von dem gegebenen Ethnolekt wie Deutsch, Slowakisch usw. unterscheidet. Synonym dazu verwendet man die traditionelle Bezeichnung (religiöser) Stil (vgl. Mistrík 1992, Makuchowska 2001, Grzelak 2005) oder – zunehmend häufiger – (religiöser) Diskurs (Wojtak 2010, Kuße 2011). Die Diskursanalyse ist aus der Textlinguistik hervorgegangen und wird als Überwindung einer engen, auf autonome Sätze beschränkten strukturalistischen Methode gewürdigt. Das aus dem Lateinischen stammende Wort discursus bedeutete zunächst ‘(argumentatives) Gespräch, Diskussion’ – allmählich wurde es als Terminus auf das gesamte Textuniversum erweitert. Es geht dabei nicht einfach um eine Textsammlung (wie etwa in der Korpuslinguistik), sondern vielmehr um gesellschaftliche Konventionen des Sprachgebrauchs, um damit verbundene Wertvorstellungen, Normen und Ziele der Kommunikation, die sich im Text als kommunikatives Ereignis widerspiegeln. Texte werden fortwährend produziert und reproduziert, sie werden im kollektiven Gedächtnis gespeichert und von dort bei Bedarf von den Diskursteilnehmern abgerufen. Ein Text ist somit ein Handlungstyp, der laut Halliday (1978) von solchen Kategorien reglementiert wird, wie: thematischer Umfang (field), gesellschaftliche Rollen der Kommunikationsteilnehmer (tenor) und der Kommunikationskanal (mode). Von Bachtin (1986) stammt der Terminus Genre, der auch in der Linguistik als Bezeichnung eines Diskurstyps verwendet wird. Genres bestimmen die Struktur des sprachlichen Handelns: mögliche Kombinatorik der Merkmale, die durch inhaltliche, strukturelle sowie gesellschaftliche Gesichtspunkte vorgegeben werden. Martin (1992) hat zwei Ebenen der Kommunikation unterschieden: den kulturellen Kontext (Genre) und den Situationskontext (Sprachregister).
Die Schwerpunktverschiebung auf den Diskurs bedeutet, dass man in den Texten kommunikative Praktiken sieht, die verschiedene Ziele verfolgen. Einen Ansporn zur weiteren Entwicklung der Diskursanalysen gab die einflussreiche Sprechakttheorie (die Schule von Austin, Searle und Grice). Unter Sprechakten kann man freilich auch religiöse Handlungen finden, die ohne bestimmte Formeln nicht zustande gekommen wären, wie z. B. das ‘Segnen’ (Es segne euch der allmächtige Gott …, poln. Niech was błogosławi Bóg wszechmogący), die ‘Taufe’ (Ich taufe dich im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes, poln. Ja ciebie chrzczę w imię Ojca i Syna i Ducha Św.).Dennoch handelt es sich hier meistens um komplexe Vorgänge, denen ritualisierte Kommunikationsmuster zugrunde liegen. So z. B. besteht die ‘Beichte’ aus folgenden Sprechakten: Bekennen, Fragen, Absolution-Erteilen, Buße Auferlegen usw. (Wagner 2001: 434). An den einzelnen Sprechakten sind unterschiedliche Illokutionen (Absichten des Sprechers) beteiligt, z. B. zu ‘Bekennen’ gehören laut Wagner folgende Komponenten: eine assertive (Feststellen eines Tatbestandes), eine deklarative (der Akt der Bekenntnis) und eine kommissive (Verpflichtung zum zukünftigen Handeln).
Nach der pragmatischen Wende in der Linguistik der 1970er Jahre war oft die Rede von spezifisch religiösen Sprechakten bzw. glaubenden Sprechhandlungen, wie bekennend-erzählende, prophetische, ermahnende, tröstende, lobpreisende usw. (Dalferth 1979: 107). Dennoch lehnt der Autor solche sprachlichen Kriterien der Religiosität ab. Religion ist etwas viel komplexeres, was mehrere Dimensionen umfasst: rituelle, mythologische, doktrinale, ethische, soziale, aber auch individuelle (Dalferth 1979: 109). Es wäre falsch, religiöse Akte schlicht und einfach mit Sprechakten gleichzusetzen, vgl.:
„Entsprechend gehört es zwar zur sprachlich-kommunikativen Kompetenz der Sprecher einer Sprachgemeinschaft, daß sie die Sprechhandlungen des Bittens, Fragens, Behauptens usf. beherrschen, nicht aber, daß sie beten, bekennen und predigen können.“ (Dalferth 1979: 113)
Religiöse Sprechakte sind assertiv-deklarativ, sie sind creedal statements (Mananzan 1974). Es wird betont, dass sie in den modalen Rahmen von ‘Credo’ eingebettet sind:
„Inhaltlich ist religiöse Sprache gekennzeichnet durch ihren assertorisch-bekenntnishaften Charakter: Religiöse Sätze sind im strengen Sinn nur sinnvoll unter der Voraussetzung des ‚Credo…‘ […] Denn das ‚Credo…‘ hält gleichsam wieder symbolisch fest, daß es zwischen dem Sprechenden und dem von ihm symbolisch Benannten um eine Beziehung von besonderer, vielleicht sogar letztgültiger Art geht, eine Beziehung, die sinnstiftend und existenzkonstituierend sein kann.“ (Klessmann 1982: 35)
Es ist offensichtlich, dass auch hier aus linguistischer Sicht ganze Genres und unser Wissen über kommunikative Situationen, in denen sie realisiert werden, aufgerufen werden. Es gibt unter ihnen auch religiöse Textgattungen, die in geschriebener Form zugänglich sind (wie z. B. Dekalog, Katechismus, Litanei, Gleichnis) und/ oder religiöse Situationen, in denen primär mündliche Kommunikation stattfindet(wie Beichte, Gottesdienst, Predigt). Sie alle können durchaus als Form des Sprachgebrauchs bzw. kommunikatives Ereignis wahrgenommen werden. Dabei sind nicht alle Formen des religiösen Diskurses strukturell so stark gebunden. Es gehören dazu auch Glaubensgespräche im Alltag (u. a. solche, in denen Gott angezweifelt oder sogar negiert wird), freie Gebete sowie religiöse Folklore (Sacrosongs, Berichte über Wunder, hagiographische Geschichten, Begehen von Festen etc.).
In der Fachliteratur sind viele Ansätze zur Klassifikation der Diskurse zu finden. Der Semiotiker der behavioristischen Schule, Charles Morris, hat in den vierziger Jahren des 20. Jh. sechzehn Diskurstypen nach den Modus-Gebrauch-Kriterien unterschieden, u. a. den religiösen Typus mit einem präskriptiv-inzitiven Charakter (vgl. Morris 1973: 218). Der religiöse Diskurs legt die Verhaltensmuster fest (präskribiert sie) mit dem Ziel, Menschen dazu zu veranlassen, solchen Mustern zu folgen (inzitiver, anregender Gebrauch der Sprache). Rund um Religion gruppieren sich auch andere Diskurse, wie der wissenschaftliche (Theologie), der poetische (Dichtung) oder der technologische Diskurs (er beschreibt Techniken, die dazu führen, anzustrebende Persönlichkeitsideale zu erreichen). Sie alle tangieren zwar religiöse Phänomene, aber ihre Signifikationsmodi (die Art und Weise, wie sich sprachliche Zeichen auf das Bezeichnete beziehen) und ihre Kommunikationsziele sind nach Morris verschieden. So schlussfolgert der Autor: „Aber weder die Theologie noch die Dichtung noch die Technologie sind primär religiöser Diskurs.“ (Morris 1973: 243)
Wie Holger Kuße (2011: 67) mit Recht bemerkt, lässt sich die Religion auf diese individualistische Dimension nicht beschränken. Seiner Meinung nach gehören noch zwei weitere von Morris selbst vorgesehene Diskurstypen zur Sprache der Religion: Es sind der mythische (auf bestimmte Art und Weise erzählende) und der kosmologische (organisierende) Diskurs. Der Autor fügt hinzu:
„Im Christentum gehören zum mythischen Diskurs die biblischen Wundererzählungen ebenso wie die reichhaltige hagiographische Literatur. Kosmologisch ist das gesamte System der christlichen Heilsgeschichte, wie sie markant im Prolog des Johannesevangeliums, aber auch in den Briefen des Paulus zum Ausdruck kommt...” (Kuße 2011: 68)
Es ist die Ganzheitlichkeit und Untrennbarkeit des allgemeinen Weltbildes, die die Religion beansprucht, welche sich der Reduzierung des Religiösen auf eine individuell-ethische Dimension entzieht. So kann ein religiöser Mensch, wie auch ein Theologe, Konzepte wie Mensch, Liebe, Freiheit für zentrale religiöse (und dementsprechend theologische) Begriffe halten (vgl. Grabner-Haider 1971: 132). Aber auch religiös indifferente Sprecher benutzen diese Wörter. Was verstehen sie darunter? Wenn ein Papst und ein kommunistischer Anführer das Wort Frieden benutzen, lässt sich dabei ein kleinster gemeinsamer Nenner finden? (Vgl. Gehrke 2011.) Lassen Sie uns nun also den Wortschatz als prägnantes Kennzeichen eines bestimmten Diskurstypen in der gemischten Polyphonie der Stimmen genauer analysieren.
4. Religiöse Lexik
Welche lexikalische Einheiten könnten also als ‘religiös’ eingestuft werden? In erster Linie scheint der Wortinhalt (Intension) als Kriterium maßgebend zu sein. Wenn man aber diesen anhand der Wörterbücher ermittelt, stellt man fest, dass es in seiner Beschreibung markante Unterschiede gibt – abhängig davon, welches Ziel ein Wörterbuch verfolgt. So z. B. wird das poln. Substantiv krzyż ‘Kreuz’ im (a) „Altpolnischen Wörterbuch“ („Słownik staropolski“), Band III, Hg. S. Urbańczyk, Wrocław, 1960–1962 (SłSstp.), und im (b) neuen Projekt von Maria Karpluk „Wörterbuch der ältesten polnischen christlichen Terminologie (bis 1500)“ („Słownik najstarszej polskiej terminologii chrześcijańskiej (do roku 1500)“) (Słtchrz.) unterschiedlich dargestellt:
(a) SłSstp.: 1. ‘rodzaj szubienicy (mowa głównie o tej, na której umarł Chrystus)’ [‘Eine Art Galgen (die Rede ist vor allem von dem, an dem Christus gestorben ist)’], (…) przenośnie ‘ukrzyżowanie, także w ogóle męka’ [übertragen ‘Kreuzigung, auch allgemein Leiden, Passion’], (…) 2. ‘przedmiot kultowy… krucyfiks’… [2. ‘Objekt des Kultes, die Vorstellung des Kreuzes, Kruzifix’]
(b) Słtchrz.: 1. ‘narzędzie śmierci Chrystusa’ [‘Das Werkzeug des Sterbens Christi’], 2. ‘ukrzyżowanie, męka Chrystusa’ [‘Kreuzigung, Passion Christi’], 3. ‘o duchowym naśladowaniu Chrystusa przez jego wyznawców’ [‘über geistige Nachahmung Christi durch seine Bekenner’], 4. ‘wizerunek krzyża, krucyfiks’… [‘das Abbild des Kreuzes, Kruzifix’]… (vgl. Karpluk 1997: 106).
Die Bedeutung des Kreuzes als antikes Tötungsinstrument generell oder als singuläre Reliquie – das Kreuz, auf dem Christus hingerichtet wurde – ist heutzutage historisch. Beide zitierten Quellen repräsentieren übrigens Spezialwörterbücher, wobei Letzteres die christliche Terminologie im Auge hat. Uns interessiert die religiöse Lexik in dem Umfang, in welchem sie in der Allgemeinsprache vorkommt und wie sie heute von den meisten Sprechern verstanden wird. So betrachtet hat das Wort Kreuz zunächst eine abstraktere symbolische Bedeutung als Zeichen des gesamten Christentums, welches an den erlösenden Tod Christi erinnert. Abgesehen davon ist es ein mehrdeutiges Wort, welches neben sakralen auch profane Inhalte bedient (vgl. → Kreuz).
Im Fall der festen Polysemie wird häufig davon ausgegangen, dass die Reihenfolge der Bedeutungen – wie sie in einem Wörterbuch festgehalten wird – der Hierarchie der semantischen Merkmale entspricht. So gesehen sollte der religiöse Kernwortschatz an erster Stelle die sakrale Komponente aufweisen, gefolgt von möglichen profanen Bedeutungen an weiteren Stellen (vgl. Dube 2004: 61). Man sollte aber nicht vergessen, dass die Beschreibungsordnung eher einen technischen Charakter hat und kein zuverlässiges Kriterium für das Ausloten der religiösen Lexik darstellt. Meistens wird als Erstbedeutung die etymologisch älteste angeführt (vgl. z. B. → Himmel, wo religiöser Gebrauch metaphorisch aus vorchristlichen Vorstellungen hervorging).
Manche Forscher stützen sich auf die Markierung der Lemmata mit Hilfe von thematischen Merkmalen wie religiös, kultisch, kirchlich, biblisch, die man in einigen allgemeinen Wörterbüchern finden kann. Aber auch hier sind die Lexikographen inkonsequent. Nicht alle Erläuterungswörterbücher verwenden solche Merkmale und wenn, dann sind sie eher als Signal für den Fachwortschatz zu deuten, also für eingeschränkten Verbreitungsgrad des Lemmas, und nicht als ausreichende semantische Zuordnung zum Bereich ‘Religion’ (z. B. hat das poln. Wort krzyż/ Kreuz im MSJP, 1969, kein Merkmal dieses Typs, aber krzyżmo/ Weiheöl wurde schon mit dem Qualifikator kult. (= kultisch) versehen). Um solche Defizite auszugleichen, werden weitere lexikographische Daten herangezogen: die Explikation der Wortbedeutung und – wenn diese noch nicht aussagekräftig ist – wird das Belegmaterial unter die Lupe genommen (z. B. wird poln. biczować/ geißeln im ISJP, 2000, mit einem religiösen Beispiel aus dem Jeremiabuch belegt: Z rozkazu arcykapłana Paszehura biczowano Jeremiasza i zakuto w dyby (vgl. Jr. 20,2), wobei die Explikation des Verbs nur allgemein bleibt: ‘jmdn. mit der Peitsche schlagen’. Im Christentum ist das Andenken an die Geißelung Christi noch immer in Wort und Bild lebendig).
Einen Sonderstatus nimmt im christlichen Diskurs die Bibel ein, die auch das sprachliche Weltbild im Allgemeinen stark beeinflusst hat. In der Lexik werden Biblismen unterschieden, die ja zum Kern der religiösen Sprache gehören. Problematisch ist, dass die Kenntnis der Bibel allmählich schrumpft, so dass geflügelte Worte biblischer Herkunft nicht mehr als solche erkannt werden, vgl. z. B. den Filmtitel Raiders of the Lost Ark von Steven Spielberg, 1981, der ins Deutsche schlicht als Jäger des verlorenen Schatzes übersetzt wurde (nur um ein prägnantes Beispiel aus der Werkstatt der Massenkultur zu nennen). Solche Bibelgattungen wie Gleichnis, Parabel, Allegorie bedienen sich auch des profanen Wortschatzes, der von dort aus besondere semantische (und stilistische) Konnotationen gewinnt, vgl. Hirt, Schafe, Senfkorn, Weinstock, Kamel, Wüste, Bräutigam u.a. Es wäre aber verfrüht, solchen Wörtern eine separate sakrale Bedeutung zuschreiben zu wollen. Sie ergeben sich aus den Lebensbedingungen des antiken Palästinas und zeichnen sich durch eine bestimmte poetische Aura aus. Aber selten würden wir sie als Biblismen bezeichnen (vgl. Lommatzsch 2011). Manche Phrasen oder Wörter gehen auf Bibelgeschichten zurück, obwohl sie dort in der im kollektiven Gedächtnis gespeicherten Form nicht vorkommen, wie z. B. Friedenstaube, Apokalypse, Arche Noah (vgl. Lurker 1990: 32–34).
Viele Autoren gehen daher von der graduierbaren ‘sakralen’ Komponente als einem Bestandteil der Wortbedeutung bzw. vom Religiositätsgrad der Wörter aus (Bajerowa 1988: 21, Kaempfert 1974: 68, Kemper 1972: 63 f.). Es ist durchaus berechtigt, vom religiösen Kernwortschatz, sog. Keywords, sowie der peripheren Zone der Lexik zu sprechen. Semantisch müssen Keywords für die Sprecher einleuchtend religiös sein, und zwar unabhängig von der Weltanschauung. Solche Wörter sind auch fest im Sprachsystem verankert, was nach folgenden Kriterien überprüfbar ist:
- Sie gehen in ein ausgebautes Netz lexikalischer Relationen ein: Sie haben Syno-, Anto-, Hypo- oder Hyperonyme etc.
- Sie sind in der Wortbildung aktiv, bilden eine Basis für ein weites Wortbildungsnest mit Derivaten und Komposita.
- Sie sind an der Phraseologie beteiligt.
- Sie haben eine relativ hohe Häufigkeit in Texten.
- Sie sind nicht veraltet oder archaisch, aber auch keine Neologismen.
- Sie sind nicht stilistisch bzw. soziolinguistisch markiert (als Fachjargon, Milieusprache usw.).
Nach solchen Kriterien wurde die Wahl der Lemmata zu diesem Lexikon getroffen. Die Liste ist nicht vollständig und keinesfalls abgeschlossen. Die Grauzone zwischen der sakralen und profanen sprachlichen Wirklichkeit kann auch soziosemantisch mit Hilfe von Umfragen ermittelt werden (vgl. Burkhardt 2011). Die oben aufgelisteten Indikatoren 1–3 sind bedeutungsspezifisch, was heißt, dass sich damit einzelne Bedeutungen (semantische Profile) voneinander unterscheiden lassen. So z.B. hat das Lemma → Himmel unterschiedliche Synonymreihen je nach semantischem Profil, vgl. Firmament, Vorsehung, Glück oder Baldachin. Mehrdeutigkeit ist ebenfalls ein Indiz für die Verankerung des Wortes im lexikalischen System.
Da von der Analyse der Diskurse ausgegangen wird, ist der Textgebrauch eines Wortes (und nicht nur seine Position im Wörterbuch) wichtig. Zu analysieren sind also neben der schon erwähnten Intension auch die Extension (Referenz) des sprachlichen Zeichens, d.h. die Frage, auf welche Objekte bzw. Sachverhalte es sich konkret bezieht. Dies hängt wiederum vom allgemeinen Thema (field) des Textes und dem konzeptuellen Rahmen des Wortes (frame) ab sowie von solchen die Kommunikation bestimmenden Parametern, wie: Wer spricht, zu wem, auf welche Art und Weise (Genre) etc. (vgl. Kiraga 2011: 148). Weltliche Gattungen, wie diverse Pressetexte, politische Reden, Romane, Unterhaltung usw. verwenden religiöse Lexik nicht selten völlig säkular, metaphorisch oder zitatähnlich, d.h. distanziert. Die Beobachtung des religiösen Wortschatzes außerhalb religiöser Diskurse ist gerade das Hauptziel dieses Lexikons.
I. Literaturauswahl
- Ammon, U./ Dittmar, N./ Mattheier, K., Hg. 1987: Handbücher zur Sprach- und Kommunikationswissenschaft. Sociolinguistics, Berlin (Bd. 1).
- Bachtin, Michail 1986: Speech genres and other late essays, Austin.
- Burkhardt, Hanna 2011: „Religiositätsgrad des peripheren Wortschatzes im Lichte von Umfragen (Polnisch)“, in A. Nagórko, Hg., Sprachliche Säkularisierung (Westslawisch – Deutsch), Hildesheim, 41–56.
- Dalferth, Ingolf 1979: „Religiöse Sprechakte als Kriterien der Religiosität? Kritik einer Konfusion“, in:Linguistica Biblica 44, 101–118.
- Van Dijk, T. A. 1977: Text and Context. Explorations in the semantics and Pragmatics of Discourse, London.
- Dube, Christian 2004: Religiöse Sprache in Reden Adolf Hitlers, Kiel.
- Eliade, Mircea 1957: Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Religiösen, Hamburg.
- Gehrke, Stefan 2011: „Das Lexem Frieden in der öffentlichen Kommunikation in der DDR“, in: A. Nagórko, Hg., Sprachliche Säkularisierung (Westslawisch – Deutsch), Hildesheim, 125–145.
- Grabner-Haider, Anton 1971: „Religion und Sprache“, in: A. Grabner-Haider/ P. Kruntorad, Hg., Fällt Gott aus allen Wolken? Schriftsteller über Religion und Sprache, Mainz – Grünewald, 123–147.
- Grzelak, Eliza 2005: „Zróżnicowanie funkcjonalne języka religijnego“, in: S. Mikołajczak/ T. Węcławski, Hg., Język religijny dawniej i dziś II, Poznań, 39–45.
- Halliday, M. A. K. 1976: System and Function in Language. Selected Papers, London.
- Karpluk, Maria 1997: „Nad staropolskim słownictwem chrześcijańskim“, in: H. Popowska-Taborska, Hg., Leksyka słowiańska na warsztacie językoznawcy, Warszawa, 105–115.
- Kaempfert, Manfred 1971: Skizze einer Theorie des religiösen Wortschatzes, „Muttersprache“ 1, 15–22.
- Kaempfert, Manfred 1974: „Lexikologie der religiösen Sprache“, in: H. Fischer, Hg., Sprachwissen für Theologen, 62–81.
- Kemper, Karl-Friedrich 1972: „Ansätze zu einer soziosemantischen Theorie des religiösen Wortschatzes“, in: Linguistica Biblica 17/18, 31–53.
- Kiraga, Sebastian 2011: „Säkularisierte Lexik in der ‚Gazeta Wyborcza‘“, in:A. Nagórko, Hg., Sprachliche Säkularisierung (Westslawisch – Deutsch), Hildesheim, 147–164.
- Klessmann, Manfred 1982: „Religiöse Sprache als Ausdruck und Abwehr“, in: Wege zum Menschen (Bd. 34, H. 1), 33–42.
- Kuße, Holger 2011: „Was ist ein religiöser Diskurs und wie kann er aussehen unter den Bedingungen der Säkularisierung?“, in: A. Nagórko, Hg., Sprachliche Säkularisierung (Westslawisch – Deutsch), Hildesheim, 57–88.
- Lommatzsch, Bohdana 2011: „Profane Redewendungen biblischen Ursprungs“, in: A. Nagórko, Hg., Sprachliche Säkularisierung (Westslawisch – Deutsch), Hildesheim, 423–434.
- Lurker, M. 1990: Wörterbuch biblischer Bilder und Symbole, München.
- Makuchowska, Marzena 2001: „Język religijny“,in: S. Gajda, Hg., Język polski, Opole, 369–402.
- Mananzan, Mary-John 1974: The “Language game” of confessing one’s belief. A Wittgensteinian-Augustinian approach to the linguistic analysis of creedal statements, Tübingen.
- Martin, J. 1985: „Process and text: two aspects of human semiosis“, in: J. Benson/ W. S. Greaves, Hg., Systemic Perspectives on Discourse 1,Norwood, 248–274.
- Mistrík, Jozef 1992: „Religiózny štýl“, in: Štylistika 1, 82–89.
- Morris, Charles William 1973: Zeichen, Sprache und Verhalten, Düsseldorf.
- Moszyński, Kazimierz 1925: „O źródłach magii i religii“, in: Przegląd Filozoficzny28, 239–251.
- Moszyński, Leszek 1992: Die vorchristliche Religion der Slaven im Lichte der slavischen Sprachwissenschaft, Köln – Weimar – Wien.
- Müller, Friedrich Max 1879: Essais sur l’histoire des religions, Paris.
- Łowmiański, Henryk 1979: Religia Słowian i jej upadek, Warszawa.
- Otto, Rudolf 1917: Das Heilige. Über das Irrationale in der Idee des Göttlichen und sein Verhältnis zum Rationalen [poln. Świętość. Elementy irracjonalne w pojęciu bóstwa i ich stosunek do elementów racjonalnych, Warszawa, 1968].
- Wagner, Klaus R. 2001: Pragmatik der deutschen Sprache, Frankfurt am Main – New York.
- Wojtak, Maria 2010: „Dyskurs religijny w mediach. Próba rekonesansu“, in: D. Zdunkiewicz-Jedynak, Hg., Dyskurs religijny w mediach, Tarnów, 7–30.
II. Anmerkungen
i | Vgl. Ryklin, Michail 2008: Kommunismus als Religion; Kämper, Heidrun 2009: „Quasi-religiöse Sprache am Beispiel des Nationalsozialismus“, in: U. Gerber/ R. Hoberg, Hg., Sprache und Religion, Darmstadt, 339–357. |
ii | Zum semantischen Umfang des Wortes poganin im mittelalterlichen Polen siehe Karpluk (1997: 109–110). |
iii | Vgl. Slupski, A. 1971: „Slavisch ‘Zauberer’, ‘Hexe’ und Verwandtes“, in: Zeitschrift für Slavische Philologie, 35, 1971, 302–320. In dem Zusammenhang sind genauso Exorzismen in der Kirche umstritten, vgl.: „Wir stehen im Feld der Magie, und nicht in jenem der Religiosität, die nie die Machtlosigkeit des Geschöpfs und die alleinige Machtfülle des Schöpfers vergessen kann.“ (Ammon et al. 1987: 84). |
iv | Man hat sich auch wegen des Schweigens Gottes angesichts des Übels und des Leides in der Welt beklagt (was von Leibniz 1710 als das Dilemma der Theodizee dargestellt wurde). |