Dr. Lutz Fiedler (Professurvertretung 2024/25)
Das Jahr 1948 markiert einen zentralen Wendepunkt in der jüdischen Geschichte. Drei Jahre nach dem Ende des Holocaust, steht es an erster Stelle für die Gründung des Staates Israel. Für Jüdinnen und Juden bedeutete dies eine „Revolutionierung“ des eigenen Selbstverständnisses – „eine der Katastrophe geschuldete Transformation von einer diasporischen in eine tellurische Existenz“. (Dan Diner) Doch ist mit diesem Wendepunkt zugleich auch ein dramatischer Einschnitt in der Geschichte des schon länger währenden jüdisch-arabischen Konfliktes verbunden: die von Palästinenser:innen als Nakba erinnerte Flucht und Vertreibung eines Teils der arabischen Bevölkerung des Landes im Zuge des israelisch-arabischen Krieges. Zugleich steht das Jahr 1948 für bahnbrechende völkerrechtliche Innovationen bei den Vereinten Nationen, deren Zustandekommen von jüdischen Akteuren (mit)geprägt wurde, die damit zum Teil auf die Erfahrungen von Krieg und Vernichtung reagierten zum Teil aber auch dem Krieg vorausgehenden Geschichtserfahrungen entsprangen: Erstens, die „Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes“ und zweitens die „Allgemeine Erklärung der Menschenrechte“. Im Rahmen des Seminars wollen wir die verschiedenen Ereignisse des jüdisches Jahres 1948 im breiteren Kontext der sogenannten „Zwischenzeit“ verstehen und deuten: jener Zeit des Übergangs zwischen dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Beginn des Kalten Krieges, in dem sich sowohl wesentliche Prozesse der Entkolonisierung vollzogen als auch Entwürfe für eine neue Weltordnung entstanden. Im Zentrum steht dabei einerseits die Frage, inwiefern diese kurze Phase ein „window of opportunity“ für die Erkenntnis und den juristischen Umgang mit den vergangenen Verbrechen als auch für eine Neugestaltung der Welt bedeutete, das sich mit dem Anbruch des Kalten Krieges wieder verschloss. Andererseits werden wir auch den Nachwirkungen von Problem- und Konfliktkonstellationen nachgehen, die dieser Zwischenzeit entsprungen sind und immer noch ihrer Klärung harren.