LV Sommersemester 2024

Die Brücke aus Papier

Prof. Dr. Liliana Ruth Feierstein, Dr. Wiebke Sievers (Europa-Universität Viadrina)

BA-Seminar (Link zu Agnes)

In der jüdischen Tradition gibt es eine Erzählung über den Weg in das Land der Gerechtigkeit, das nicht über die Brücke aus Eisen – also mit Gewalt –, sondern nur über die Brücke aus Papier zu erreichen ist. Diese Erzählung dient uns als Ausgangpunkt für unser Seminar. Wir wollen darüber reflektieren, in welcher Hinsicht Literatur als Brücke dienen kann und wie diese Funktion in unterschiedlichen Kontexten Anwendung findet. So diente Literatur zum Beispiel nach der Shoa als Brücke zurück ins Leben. Das Bedürfnis, sich in der Welt wieder zu verorten, fand Ausdruck in einer enormen Nachfrage nach Lesestoff in den Displaced Persons Camps, in denen viele der Überlebenden zunächst unterkamen. Sie diente aber auch in dem Sinne als Brücke, dass sie erlaubte, Zeugnis abzulegen über das Erlebte. Diese Texte wiederum dienten den Überlebenden der argentinischen Militärdiktatur als Ausgangspunkt, um über ihre traumatischen Erfahrungen zu schreiben. In diesem Fall bildet Literatur eine Brücke, die einerseits den Zugang zu den eigenen Erfahrungen ermöglicht und erlaubt, diese in Worte zu fassen. Andererseits dienten die jüdischen Erzählungen als Brücke, um diesen Erfahrungen in der Welt Relevanz zu geben. Ähnliche Phänomene finden sich auch in der deutschsprachigen Literatur. So bezieht sich Emine Sevgi Özdamar in vielen ihrer Werke auf die deutschsprachige Exilliteratur, um Erfahrungen des türkischen Exils im deutschsprachigen Raum zur Sprache zu bringen. Und Anna Kim orientiert sich an Ingeborg Bachmanns Todesartenprojekt, mit dem Bachmann die fortwirkende Gewalt des Nationalsozialismus in der Nachkriegszeit zum Ausdruck bringen wollte, um über den Genozid in Jugoslawien, den Kolonialismus in Grönland und den Kalten Krieg in Korea zu reflektieren. Das Ziel des Seminars ist, die Brückenfunktion der Literatur an unterschiedlichen Beispielen aus verschiedenen Kontexten zu illustrieren und zu diskutieren. Das Seminar findet in Kooperation mit der Europa Universität Viadrina statt.

 

Jüdische Einwanderung nach Lateinamerika

Prof. Dr. Liliana Ruth Feierstein, in Kooperation mit dem Jüdischen Museum Berlin

MA-Projektseminar mit obligatorischem Colloquium (Link zu Agnes: Seminar und Colloquium)

Zwischen 1933 und 1943 konnten etwa 100.000 zentraleuropäische, deutschsprachige Juden und Jüdinnen ihr Leben auf den Subkontinent retten. Diese Migration hat einen starken Eindruck hinterlassen, nicht nur auf das jüdische Leben im Allgemeinen, sondern auch auf die lateinamerikanische Gesellschaft.
Drei Gruppen waren dabei besonders einflussreich: Psychoanalytiker_innen, Künstler_innen und nicht zuletzt Rabbiner sowie Kantoren. Das Projektseminar eröffnet einen Einblick in die deutsch-jüdischen Erfahrungen in Lateinamerika: vom Heine-Club der Exilierten in Mexiko über die „argentinische“ Geschichte der Frankfurter Schule bis hin zur Geschichte der deutsch-jüdischen Presse und anderer kultureller Übersetzungen (wie bspw. die Gründung der lateinamerikanischen psychoanalytischen Gesellschaft, des Deutschen Theaters, etc). Oft haben Exilierte und Vertriebene, Reisende und Abenteurer_innen in der Emigration Neues hervorgebracht und nicht nur ihr eigenes Leben, sondern bedeutende Quellen und Dokumente der „europäischen“ Kultur gerettet, die den NS-Totalitarismus nicht überlebt hätten.
Nach einer Einführung in die Geschichte dieser Einwanderung und des Kulturtransfers werden wir gemeinsam am Aufbau eines digitalen Archivs arbeiten, das diese vergessene(n) Geschichte(n) dokumentiert und mit eigens dafür verfassten Texten bekannt machen soll.
In Kooperation mit dem Jüdisches Museum werden wir die Möglichkeit haben, kuratorische Arbeit in ihren praktischen Aspekten kennenzulernen. Danach werden wir uns mit einigen Fragen des musealen Arbeitens und Vermittelns auseinandersetzen, um dann selbstständig recherchieren zu können. Die Abschlussprüfung besteht aus der Entwicklung eines Ausstellungskonzepts

Mythos als Kultur – Kultur als Mythos. Einführung in moderne Mythentheorien

Ellen Rinner (M.A.)

BA-Seminar und Überfachlicher Wahlpflichtbereich (Links zu Agnes: regulär und ÜWP)

Ein Blick auf aktuelle politische, kulturelle oder gesellschaftliche Debatten zeigt, dass Mythisierungen aller Art eine Hochkonjunktur erleben – auch das 21. Jahrhundert ist überaus ‚mythophil‘. Ein Blick auf Geschichte und Theorie des Mythos zeigt jedoch, dass Mythen eine Konstante unseres Weltverhältnisses und von Kultur überhaupt bilden.

Im Seminar werden wir uns gemeinsam der Frage widmen, was ein Mythos ist, wozu Mythen dienen oder in Dienst genommen werden und in welchem Verhältnis mythisches und rationales Denken zueinander stehen. Dazu werden wir einschlägige moderne Theorien des Mythos lesen und gemeinsam diskutieren. Das Seminar gibt unter anderem einen Überblick über anthropologische Ansätze (Freud: „Totem und Tabu“), politische Mythentheorien (Cassirer: „Der Mythus des Staates“) über kultursemiotische Arbeiten (Barthes: „Mythen des Alltags“) bis hin zu philosophischen Positionen (Adorno/Horkheimer: „Mythos und Aufklärung“; Blumenberg: „Arbeit am Mythos“). Ziel ist es, einen Überblick über einen der Grundlagenbegriffe der Kulturwissenschaft zu geben und dadurch eine kritische Perspektive auf gegenwärtige Mythisierungen einzunehmen.

Examenskolloquium

Das Kolloquium ist offen für alle, die ihre BA- oder MA-Arbeit diskutieren möchten. Die Teilnahme ist nur nach einer verbindlichen Anmeldung bei tizian.raschpichler@hu-berlin.de möglich.