Bachelorarbeit an der Humboldt-Universität zu Berlin, betreut von Prof. Dr. Liliana Ruth Feierstein und PD Dr. Bettina Bock von Wülfingen
Aus der Laudatio der Jury:
In ihrer exzellenten Bachelorarbeit geht Paula Kreutzmann weit über den erwartbaren Anspruch einer üblichen „undergraduate“-Arbeit hinaus. So ist bereits die Zielstellung, die Klärung der abstrakten Frage, ob sich ein ideologischer Zusammenhang zwischen Antifeminismus und Antisemitismus diagnostizieren lässt, höchst anspruchsvoll und schwerlich auf 40 Seiten zu beantworten. Doch die Autorin beweist hierbei herausragendes Geschick im Verdichten dieser abstrakten Problematik auf einen einzelnen Kristallisationspunkt, der wiederum geeignet ist, allgemeinere analytische Schlüsse zu ziehen. Konkret greift Frau Kreutzmann zwei Gerichtsfälle aus der Spätphase der Weimarer Republik auf, um das potentielle ideologische Zusammenspiel von Antisemitismus und Antifeminismus direkt greifbar zu machen. Anhand der Verhaftung und Anklage der Ärztin Else Kienle und des Arztes Friedrich Wolf im Jahr 1931 wegen Verstoßes gegen den § 218 RStGB untersucht sie die Rezeption der Fälle durch verschiedene Zeitungen auf das Erscheinen und potentielle Verbindungen beider Motive.
Hierbei gelingt es der Autorin überzeugend nachzuweisen, dass in der nationalsozialistischen, aber in Teilen auch konservativen Presse eine klare Verknüpfung antisemitischer und antifeministischer Ressentiments bspw. über Ritualmordmotive oder einen vermeintlich gezielt lancierten „Sittenverfall“ durch die Sexualreform stattfindet. Auffällig hierbei, so die Autorin, ist aber auch, dass der konkrete rechtliche Vorwurf des Verstoßes gegen den § 218 in der NS-Presse in den Hintergrund tritt und als bloßer Aufhänger zur Verbreitung allgemeinerer antisemitischer Stereotype und nationalsozialistischer Propaganda genutzt wird.
Was die Arbeit von Frau Kreutzmann auszeichnet, ist nicht nur die überaus fundierte und methodisch hervorragend umgesetzte Analyse des Quellenmaterials, sondern auch die exzellente Umsetzung des breiten Anspruchs durch eine umfassende und facettenreiche Einbettung des Untersuchungsgegenstandes in unterschiedliche Kontexte. Neben Bezügen zur aktuellen Debatte über den § 219a StGB (die den Rahmen der Arbeit bilden), werden u.a. auch die Entwicklung des § 218 vom Kaiserreich zur Weimarer Republik, die Rolle der Biografien und des sozialpolitischen Engagements Wolfs und Kienles für die Rezeption der Prozesse und eine abstrakttheoretische Diskussion von Abgrenzung und Überschneidungen zwischen Antifeminismus und Antisemitismus vorgenommen. Gerade die enge Verknüpfung der historischen Analyse mit der gegenwärtigen Auseinandersetzung über den § 219a StGB deckt sich in besonderem Maße mit dem Anspruch des Matthias-Erzberger-Preises, aus der Analyse der ersten deutschen Republik Erkenntnisse für die politischen und wissenschaftlichen Herausforderungen der heutigen Demokratie zu erarbeiten. Die Jury freut sich daher, den Erzberger-Preis für das Jahr 2022 an Frau Kreutzmann verleihen zu dürfen.